Tagebuch 2020, Woche 4: Hühner – Abnormalität – Folgsamkeit

Eines der berüchtigten Sprühtunnels beim Eingang zu einem Geschäftsgebäude. Gemäss Anweisungen links müssen die BenutzerInnen sowohl eine Gesichtsmaske als auch eine Brille und Handschuhe tragen. – BILD: mutantia.ch

 

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3. Juni – Hühner

Heute hatte ich zwei Säcke Hundefutter dabei, damit sich die beiden Hunde von Elvias Nachbar nicht zanken mussten. Doch als ich ankam, waren die Tiere weg. Elvia realisierte dies erst, als ich sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Doch sie zuckte nur mit den Schultern. Entweder, so dachte ich, sind die Hunde verhungert oder aber der Nachbar hat sie getötet (weder das eine noch das andere sollte sich im Nachhinein bewahrheiten). Wo kein Essen für Menschen, ist oft noch weniger für die Tiere. Und freigelassen, sagte Elvia, habe er sie bestimmt nicht. Denn im Quartier halten mehrere BewohnerInnen Hühner, und der Besitzer der Hunde würde sofort zur Rechenschaft gezogen, sobald seine Tiere das erste Huhn gerissen hätten.

 

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4. Juni – Abnormalität

Soeben meinte Marizu, dass sie erleichtert sei, heute den Computer lediglich für ihre Klasse um 17 Uhr anwerfen zu müssen. Seit März nimmt sie Online-Unterricht und hat ihre Kommilitonen nur via Bildschirm gesehen. Ausserdem ist seit einigen Tagen unklar, ob es ihre Universität, die teilweise von Subventionen abhängig ist, in einem Jahr überhaupt noch gibt. Denn Teil der Budgetkürzungen im Bildungsbereich betreffen auch ihre Universität.

Marizu sass während der vergangenen Wochen, ähnlich wie ich, derart oft vor dem Bildschirm, dass uns abends jeweils die Augen brannten und einem halb schwindlig war. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass dies Teil der „neuen Normalität“ innerhalb der „digitalen Revolution“ darstellen soll: stunden- wenn nicht tagelanges Computersitzen und eine enorme Einschränkung unserer sozialen Kontakte. Allerdings gehe ich davon aus, dass sich die BewohnerInnen dieses Planeten noch zu Wort melden, ehe die in der britischen Fernsehserie „Black Mirror“ vorgezeichnete Science Fiction Realität wird. Denn ständiges Sitzen und ein Alltag der Isolation entspricht so gar nicht der menschlichen Natur. Und sollte dies irgendwann doch normal werden, dann bin und bleibe ich mit Vorliebe im Lager der Abnormalen.

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“Der Schaden fügst du dir selber zu”: Warnschild von der Stadtverwaltung Quitos beim Park El Ejido im Zentrum der Stadt – und dies schon am Morgen früh. Die Aufnahme stammt vom April 2020, als ab 14 Uhr jeweils Ausgangssperre herrschte. – BILD: mutantia.ch 

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5. Juni – Folgsamkeit

Gestern kam Marizu völlig verschwitzt nach Hause, und sagte, sie habe sich heute mit todo el mundo gestritten. Ich dachte „Vollmond“, realisierte jedoch schnell, dass dieser ihren Ärger höchstens noch verstärkt hatte. Halb empört, halb ironisch bemerkte sie beim Lösen ihrer Schnürsenkel, dass sie jetzt nicht einmal mehr ihre Hände waschen müsse …

Marizu war heute in der Stadt unterwegs, um diverse Dinge zu erledigen. Unter anderem musste sie zur Bank und zur Steuerbehörde. Doch bereits beim ersten Termin in der Bank ist ihr offenbar der Laden runtergegangen. Sie musste durch einen dieser Tunnels laufen, bei denen die Körper mit Alkohol und Chlor besprüht werden – angeblich, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern. Niemanden scheint zu kümmern, dass diese Methode eher schädlich als nützlich für die menschliche Gesundheit ist. Hauptsache, es wird etwas unternommen. „Wir sind eben Noveleros“, sagte mir kürzlich ein Bekannter, will heissen: Alles, was irgendwie neu ist, findet man nachahmungswert. Und wenn sich die Banken und Märkte und Gemeinden schon so einen Sprüh-Tunnel zugelegt haben, dann soll er auch benutzt werden! Ärzte hatten schon vor Wochen vor dieser Entwicklung gewarnt und gesagt, dass sich dadurch die Bevölkerung in falschen Sicherheit wähne. Dennoch wird hier seit dem Lockdown getunnelt was das Zeugs hält. Und Marizu, die Ärmste, ist mittendrin.

Beim Hände waschen (sie tat es dann doch noch) berichtete sie mir von den überdimensionalen Gasmasken, die die privaten Sicherheitsleute über das Gesicht gestülpt hätten und von den neuartigen Schutzbrillen, die den gesamten Kopf abdecken. Zum Charakterzug des Noveleros kommen noch zwei Eigenschaften hinzu, die das öffentliche Leben in Quito derzeit unerträglich machen: Folgsamkeit und Sturheit. Denn als Marizu endlich fertig war, und das von der Bank abgeholte Geld für die nächste Transaktion bei Western Union in der Tasche hatte, erinnerte sie sich, etwas vergessen zu haben. Sie stand zwar noch im Gebäude der Bank, doch die mit Schutzanzügen ausgerüsteten Angestellten, verlangten, ihr noch einmal Alkohol auf die Hände zu spritzen. Und als Marizu ein paar Minuten später gereizt und erschöpft am Schalter von Western Union ankam, um zum Geburtstag ihrer Schwester in Argentinien eine kleine Überweisung zu machen, da wollten sie sie zunächst nicht bedienen, weil sie angeblich ihre Maske nicht richtig aufgesetzt hatte.