Tagebuch 2020, Woche 18: „Live“ – Trennung – Geburtstag – Reichtum
Schnell, unbürokratisch und unkompliziert: Bei einer Gerichtsverhandlung der indigenen Gemeinde Salasaca gehen die zuständigen Behörden zusammen mit den betroffenen Parteien an den Ort des Konflikts. In diesem Falle ging es um die Verteilung von Ackerfläche. Wie vielerorts in Ecuador haben die BewohnerInnen auf Grund der Pandemie auch in Salasaca wieder zu säen begonnen. – BILD: mutantia.ch
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7. September – „Live“
Eine Bekannte sagte letzthin, sie habe einen Tanzauftritt und zwar live. Ich war begeistert und fragte wo und wann. Da lächelte sie verlegen: „Um vier bei mir zuhause. Online.“
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8. September – Trennung
Übermorgen geht es endlich wieder einmal auf eine Recherche ausserhalb Quitos. Man muss sich das mal vorstellen: sechs Monate am selben Ort, ohne wirklich aus der Stadt gekommen zu sein. Ich bin mir nicht sicher, meine Aufgabe als Journalist wirklich wahrgenommen zu haben. Ich würde sogar sagen, dass ich meine Rolle nicht erfüllt habe. Ein Journalist muss raus aus den eigenen vier Wänden, mit den Menschen sprechen, auf dem Land und in der Stadt. Er muss in jene Sphären des Alltags vordringen, die in den Massenmedien nicht vorkommen, die verschwiegen oder verheimlicht werden, er muss Kanäle anzapfen, die tief im kollektiven Schweigen verharren. Er muss Plattformen bieten, anderen Gehör verschaffen, eben jenen, die sonst als nadies in die Geschichte eingehen, die Niemande, wie sie Eduardo Galeano einst beschrieben hatte:
Die Flöhe träumen davon, sich einen Hund zu kaufen
und die Niemande träumen davon, der Armut zu entkommen,
dass eines magischen Tages
auf einmal das Glück auf sie herabregnet,
dass das Glück in Sturzbächen auf sie herniederprasselt;
aber das Glück regnet weder gestern,
noch heute, noch morgen, noch jemals,
nicht mal als leichtes Nieseln fällt es vom Himmel, das Glück,
so sehr auch die Niemande es herbeirufen
und obwohl sie schon ein Ziehen in der linken Hand spüren,
oder mit dem rechten Fuß aufstehen
oder das Jahr damit beginnen, einen neuen Besen zu benutzen.
Die Niemande: die Söhne von Niemanden, Eigentümer von nichts.
Die Niemande: die Nichtigen, die nichtig Gemachten, die dem Hasen hinterher rennen,
das Leben sterbend, verarscht, komplett verarscht:
Die nicht sind, obwohl sie wären.
Die keine Sprachen sprechen, sondern Dialekte.
Die keine Religion ausüben, sondern Aberglauben.
Die keine Kunst machen, sondern Bastelarbeiten.
Die keine Kultur praktizieren, sondern Folklore.
Die keine menschlichen Wesen sind, sondern Humankapital.
Die kein Gesicht haben, sondern Arme.
Die keinen Namen haben, sondern eine Nummer.
Die nicht in der Weltgeschichte in Erscheinung treten,
sondern im Kriminalreport der Lokalzeitung.
Die Niemande, die weniger kosten als die Kugel, die sie tötet.*
Ich habe den Niemanden nicht genügend zugehört. Gründe gibt es viele: beschränkte Reisemöglichkeiten, beschränktes Budget, beschränktes Interesse jener, die mir eine solche Reise finanzieren könnten, beschränkte Offenheit, aber auch einfach fehlende Kontakte, fehlende Netzwerke und Allianzen. Drei Jahre in einem neuen Land sind nicht viel, um einer Krise wie der aktuellen journalistisch (und überhaupt) die Stirn bieten zu können. Etwa um Geschichten zu recherchieren, Bauern auf dem Land zu besuchen, Vertrauen zu schaffen.
Ich frage mich also, wie nützlich ich hier gewesen bin seit März, wie nützlich meine Arbeit als Journalist überhaupt ist. Die deutschsprachigen LeserInnen in Europa sind einfach zu weit weg von der hiesigen Realität und derzeit vermutlich zu sehr mit sich selber beschäftigt, als dass sie sich auf die Themen eines kleinen Landes am anderen Ende der Welt einlassen könnten.
Naja, auch Ausreden gibt es bekanntlich viele. So oder so bin ich nun froh, bald nach Tungurahua aufzubrechen und hoffentlich mit jener Realität auf dem Land in Kontakt zu kommen, von der ich nun Monate lang getrennt gelebt habe.
*Kopiert von lyricstranslate.com.
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9. September – Geburtstag
Heute feiert Marizu ihren Geburtstag. Ich habe ihr eine Zimmerpflanze für ihr neues Zuhause geschenkt, sowie einen Kübel Yerba Mate aus Argentinien und eine Schokoladentorte mit Kakao aus Ecuador. Und all das nur einen Tag, nachdem mir Gloria vom Ilalo weitere Audios geschickt hatte, an deren Enden sie jeweils leise vor sich hinweint.
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Take-Away-Säckli und Bier aus Plastikbechern: Der Autor (mit gelber Mütze) beim nächtlichen Trinken in einem kleinen Restaurant an der Hauptstrasse, zusammen mit Vertretern der indigenen Gemeinde Salasaca und der Fotografin. – BILD: Pao Michilena
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13. September – Reichtum
Gestern bin ich richtiggehend gemästet worden. Es war unweit von Ambato in der indigenen Gemeinde Salasaca, wo am Nachmittag eine Art Gerichtsverhandlung nach indigenem Recht stattgefunden hat. Es ging um Land, das jahrelang brachgelegen hatte, nun aber während der Pandemie wieder bewirtschaftet wurde. Und offenbar sind sich dabei vier Parteien in die Haare geraten, weil nicht klar war, wem welche Zelle gehört.
Um sich ein Bild der Situation machen zu können und dann möglichst schnell und unbürokratisch zu einer Lösung zu kommen, war eine Gruppe Regierungsvertreter vor Ort. Allerdings musste das Verfahren auf Grund der einbrechenden Dunkelheit nach drei Stunden Verhandlung verschoben werden. Die campesinas und campesinos in den Anden gehen mit dem Licht der Sonne. Und wenn dieses nicht mehr ist, dann ist es Zeit, sich zur Ruhe zu legen. Zumindest wochentags. Im Falle der besagten Verhandlung sollte es aber noch am Abend zu einer überraschenden Wendung kommen. Denn als der Tross bereits auf dem Nachhauseweg war, gestand plötzlich eine der Parteien via Handy ein Stück Land besetzt zu haben, das ihm eigentlich nicht zugestanden hätte …
Also konnten sich die verschiedenen Parteien am Ende doch noch zufrieden dem Abendessen widmen. Zum Dank für die Verhandlungsführung hatte eine der Familien extra eine Sau geschlachtet und servierte sie nun auf grossen Tellern. Zuerst allerdings gab es Suppe – und zwar zwei Mal! Dazu die in den Anden bekannte pambamesa, also ein riesiges Blech voll mit Bohnen, Kartoffeln und Melloco, eine Art Kartoffel, aber weicher und geschmeidiger. Und danach – wir waren eigentlich bereits alle mehr als satt – gab es einen riesigen Teller Fleisch mit Kartoffeln und geröstetem Mais. „Einfach servieren lassen, wir bitten danach um Takeaway-Säcke“, sagte der Vizepräsident in aller Ruhe. „Wir wollen die Familie schliesslich nicht vor den Kopf stossen“.
Ich werde das Blitzen in seinen Augen nicht mehr vergessen, es war,
als ob ihm jemand neues Leben eingehaucht habe. Die Jungs stammten aus Venezuela
und es war nicht klar, ob sie auf dem Rückweg waren oder auf der Flucht in Richtung Süden.
So taten wir es dann auch und gingen nach etwa anderthalb Stunden alle mit unserem Säckli ein Haus weiter. Genauer gesagt landeten wir in einem Spunten an der Hauptstrasse Salasacas, wo uns von einer anderen Familie zwei Harasse Bier aufgetischt wurden, inklusive zwei Flaschen Hochprozentigem. Das Essen dagegen liessen wir von Anfang an in Styroporbehälter und Plastiksäcke einpacken. Anstandshalber beschränkten wir uns also auf’s Flaschen leeren. Ich wusste, dass ich diese zweite Portion (oder war’s schon die dritte?) auf meinem Nachhauseweg von Ambato nach Quito verschenken würde. Und so war es dann auch.
Ich hatte am nächsten Morgen noch nicht einmal die Hoteltüre geöffnet, als ich bereits zwei junge Männer auf der gegenüberliegenden Strassenseite entdeckte. Sie waren keine zwanzig, trugen ausgelatschte Schuhe, abgefuckte Rucksäcke und hatten einen Ausdruck im Gesicht, der klar machte, dass sie in den vergangenen Wochen, möglicherweise Monaten, an ihre Grenzen gestossen waren. Einer der beiden kam sofort auf mich zu, doch bevor er mich um Almosen bitten konnte, drückte ich ihm mein Päckli in die Hand. Ich werde das Blitzen in seinen Augen nicht mehr vergessen, es war, als ob ihm jemand neues Leben eingehaucht habe. Die Jungs stammten aus Venezuela und es war nicht klar, ob sie auf dem Rückweg waren oder auf der Flucht in Richtung Süden.
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