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20. Dezember 2021, Wien, Österreich

 

Über die innere Besinnung zur neuen Weltarchitektur

 

Es wird keine post-pandemische Welt mehr geben. Diese schmerzhafte Einsicht sollte man angesichts der weltweiten ökologischen, gesellschaftlichen und institutionellen, ja, zivilisatorischen Krise schon gewonnen haben. So schmerzhaft es mir als Jungvater auch fällt dies anzuerkennen. Was ich damit meine ist, dass es weder ein „Zurück“ zu einer Zeit vor der Pandemie geben wird, noch eine „neue Normalität“ und schon gar nicht ein Ende weiterer zoonotischer Krankheiten, also der Übertragung tierischer Erreger auf den Menschen angesichts des immer weiteren Vordringens menschlicher Aktivitäten in (mehr oder minder) unberührte Naturlebensräume. Es gibt zwar (hoffentlich) wieder ein Leben ohne Maske, jedoch kein Zurück. Wir haben sämtliche Kipppunkte bereits überschritten. Der Klima-, der Weltkollaps spielen sich nun unerbittlich vor uns ab und die aktuelle Pandemie ist nur der Anfang davon. 

Diese klaren Worte sollen allerdings nicht primär als Bekenntnis zu herzzerreißenden Dystopien verstanden werden, sondern viel mehr die Chance für echte Veränderungen verdeutlichen. Also für subjektives und gemeinschaftliches, aber auch spirituelles Wachstum, sowie institutionelle und politische Strukturveränderungen im großen Stil.

Jede Krise macht bekanntlich Machtverhältnisse gnadenlos sichtbar und bedeutet daher eine Möglichkeit zu Veränderung – und diese gilt es trotz allem gerade jetzt zu ergreifen: “Wir haben keine Chance – nutzen wir sie“.
Das schreibe ich als jemand, der zunächst mal professionell mit Krisen zu tun hat. Als Akademiker im Bereich Katastrophenprävention und Entwicklung, aber dann auch als ein Weltwanderer, jemand, der im globalen Norden aufwuchs und dann auszog in die weite Welt, der zwölf Jahre in Lateinamerika, dem Mittleren Osten und auch regelmäßig in Afrika gearbeitet hat. Mitte 2021 ging ich wieder zurück in meine Heimat, nach Österreich, nur um dort (fast) nichts wiederzuerkennen: Gesellschaft und Politik unter dem Eindruck der entfesselten Globalisierung und der Einsparungen im Bildungsbereich seit den 90er Jahren weitgehend polarisiert und radikalisiert. 

So marschieren hier seit Wochen jeden Samstag zwischen 40.000 und 100.000 Neonazis, Massnahmenkritiker- und EsoterikerInnen, fundamentalistische „Christen“ und tatsächlich besorgte MitbürgerInnen durch die komplett lahmgelegte Wiener Innenstadt, attackieren Ärzte, Spitäler und Journalisten. Sie fordern, mitunter zu Recht, allerdings aus verqueren Motiven, ein Umdenken der Pandemiepolitik, bis hin zum offenen Sturz der Regierung und der Abschaffung der Demokratie.  Blendend verdient daran der Besitzer des Red Bulliversums und international erfolgreicher Sportfilialien Dietrich Mateschitz, der mit seinem Fernsehsender Servus TV regelmässig Impfgegnern, Fake News und Attacken auf Solidarität, Zusammenhalt und Öffentlichkeit Bühne bietet.

Vor wenigen Monaten noch, als Mitte 2020 im ecuadorianischen Guayaquil die Menschen auf den Strassen verstarben, in Kartons abtransportiert wurden, und man händeringend nach Zugang zu den Impfungen auf internationalen Märkten Ausschau hielt, während im Westen bereits 1x und 2x geimpft wurde, wären diese DemonstrantInnen der Gegenwart wohl instant gelyncht worden. 

Und die weltweite Ungleichheit beim Zugang zu Impfstoffen und Produktion – samt weiterhin bestehender, milliardenschwerer Patente auf mit öffentlichen Geldern finanzierten Forschungsspin-offs (die zumindest AstraZeneca und Moderna darstellen) – wiegt nach wie vor schwer. Die „Freiheit“, die besorgte WutbürgerInnen des Nordens meinen, ist eine sehr enge und wird auch immer enger. Für die Abschaffung der Impfpatente, für den Schutz von MigrantInnen im Mittelmeer oder Belarus/Polen, oder für – auch nach zwei Jahren nicht vorhandene – klare Katastrophen- und Pandemiegesetze auf europäischer und nationaler Ebene, einschließlich transparenter Spielregeln für Staatshilfen und Ausnahmezustände wird gar nicht erst protestiert. Auch der mediale Horizont hat sich auf den Alltag und das allgemeine Überleben zunehmend verengt.

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Zum Autoren

Johannes M. Waldmüller (1982, Österreich) ist Entwicklungsanthropologe (PhD 2014 in Genf), Umwelt- und Menschenrechtsaktivist in den Anden und Südostafrika und forscht dort seit einigen Jahren zu Katastrophenprävention und Wiederaufbau im Zuge des Klimawandels. Zwischen 2016 und Anfang 2021 hielt er eine Forschungsprofessur für internationale Politik an der Universidad de Las Américas, Quito, sowie Gastprofessuren an FLACSO Ecuador und Argentinien, an der Universität Toulouse und an der polytechnischen Universität Ecuador. Seit September 2021 ist Gastprofessor der Universität Wien und Teil des dortigen Forschungsverbundes Lateinamerika.

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Ich habe in den 2000ern in Europa gelebt, das von Finanzkrisen, neoliberaler Austeritätspolitik und den Auswirkungen des absurd-polarisierenden „War on Terror“ geprägt wurde. Gleichzeitig standen Lateinamerikas (mehr oder minder) progressive Regierungen mit ihren neukeynesianischen Wirtschaftspolitiken für sozialen Umbau und menschliche Entwicklung, und sorgten für ungläubiges Staunen in Europa.

Heute ist es allerdings nun scheinbar genau umgekehrt: Während Lateinamerika in rechtem Populismus, postliberaler Austeritätspolitik und Krieg gegen die eigenen Bevölkerungen versinkt (siehe Protestwellen 2019), dramatische Armutsspiralen inklusive, wurde in Europa der Staat als Investitionsmotor und Schutz der eigenen Bevölkerungen wiederentdeckt. Nie gesehene Schutzprogramme helfen Unternehmen und Familien durch die Krise, die öffentliche Verschuldungen gehen durch die Decke und der staatliche Ansteckungsschutz nimmt teilweise geradezu absurde Ausmaße an. Dies wird spürbar, wenn der Besuch von Restaurants, Bibliotheken oder Museen selbst nicht mehr bei reduzierten Besucherzahlen möglich sein darf, oder gar wie in Österreich unter Strafandrohungen eine allgemeine Impfpflicht ab 2022 eingeführt werden soll, die sich gar nicht mehr an besonders vulnerablen Gruppen orientiert. Dafür bleiben in den Alpen Skiressorts offen, denn Wirtschaft geht vor. Solcherart katastrophale Katastrophenpolitik ist nicht vermittelbar, kann nur auf Widerstand stossen. 

Es wird sich jedoch erst noch zeigen, ob eine Impfpflicht für alle tatsächlich mit der europäischen Grundrechtscharta vereinbar ist. Gleichzeitig steigt die globale Abhängigkeit von einer Handvoll pharmazeutischer Unternehmen. Dabei steht die stark ansteigende öffentliche Verschuldung direkt proportional zum Umsatz derselben beziehungsweise dem Ausbleiben einer tatsächlich wirkmächtigen Behandlung gegen Sars-CoV-19. Als Resultat spukt die Angst vor Masseninflation und oftmals bereits gefühltem Wirtschaftszusammenbruch durch die Strassen. 

Anders gesagt: Wir werden an echten, tiefgreifenden und grossflächigen Reformen nicht herumkommen, da auch die bisherige Orthodoxie der Ökonomie am Ende ihres Lateins angelangt ist. Damit meine ich nicht das „Great Reset“-Gewäsch eines Klaus Schwab und seines WEF. Und ebenfalls nicht nur neues Big-Greenwashing, wie es die neue deutsche Regierung vorhat und schon gar nicht den „Green New Deal“ eines Joe Biden.

 

„Auch müssen die WutbürgerInnen auf den Strassen mittels thematischer Bürgerräte
partizipativ mit ins Boot geholt werden. Auf EU-Ebene braucht es ein umfassendes BürgerInnenparlament, wie es bereits 2007-2009 erfolgreich erprobt und dann
abgewürgt wurde, da man verbindliche Zusagen verlangt hatte.“ 

 

Was ich meine ist ein Komplettumbau unserer internationalen Finanz- und Wirtschaftsarchitektur und mithin des globalen Produktions-, Handels-, und Konsumsystems. Eine Art neues Bretton Woods, wie gegen Ende des 2. Weltkrieges, allerdings mit dem Ziel global geänderter Spielregeln. Wo Wachstum um jeden Preis, wo Entsolidarisierung und Ausbeutung der Mitmenschen, nicht mehr die zentralen Werte darstellen, wie es mit den politisch bewusst getroffenen Entscheidungen hin zur entfesselten Wirtschaftsglobalisierung in den 1990ern der Fall war.

Was ich mir vorstelle und wofür ich nun mehr denn je arbeite, ist eine Welt, die umfassende menschliche Entwicklung, inklusive ihrer spirituellen und kulturellen Dimensionen, in den Mittelpunkt stellt, und zwar gemeinsam mit ökologischer und historischer Wiedergutmachung zwischen Erdteilen und Völkern. Wo etwa Unternehmen, die dazu ihren konkreten und nachweislichen Beitrag leisten, Steuererleichterungen, erhöhte korporative CO₂-Verbrauchskonten und Subventionen erhalten, und jene, die es gerade nicht tun (habe ich Red Bull schon erwähnt?) dafür umso mehr zahlen werden. 

Wo es aber auch nicht nur um die Bepreisung der CO₂-Ausstösse geht, sondern um eine tatsächliche Umgestaltung: Banken etwa müssen radikal demokratisiert werden, vom Gewinnziel weg- und zu Gemeinzielen hingeführt werden; das Spekulationsgeschäft massiv eingeschränkt und die Gewinnsteuern der immer reicher werdenden und meist CO₂ emittierenden Oberschicht massiv angehoben werden (die Konzernsteuern von 15 % stehen Pate für die Umsetzbarkeit). Auch müssen die WutbürgerInnen auf den Strassen mittels thematischer Bürgerräte partizipativ mit ins Boot geholt werden. Auf EU-Ebene braucht es ein umfassendes BürgerInnenparlament, wie es bereits 2007-2009 erfolgreich erprobt und dann abgewürgt wurde, da man verbindliche Zusagen verlangt hatte. 

Auf internationaler Ebene muss der kompetitive und chauvinistische Klassiker der nationalistischen und realistischen Machtperspektive überwunden werden, dazu gehört insbesondere der radikale Umbau der militärisch-industriellen Komplexe hin zu weltweiten Katastropheneingreiftruppen angesichts der steigenden Wetterextreme. Das chinesische Konzept des „tianxia“ etwa wäre ein interessanter Ansatz für westliche Weltregionen, die heute von Visionslosigkeit geprägt sind. Also die Idee eines gemeinsam kooperativen Rahmens innerhalb flexibler Netzwerke, die sich von kleinsten lokalen Einheiten zu kosmopolitischer Zusammenarbeit jenseits der zu überkommenden Nationalstaatlichkeit (weder Viren noch Katastrophen kennen Grenzen) hinfort setzen. Es ist kein Zufall, dass in einer post-multilateralen Welt gerade die Diplomatie und Kooperation zwischen Städten am Boomen ist – teilweise auch gerade gegen die Nationalregierungen, wie im Falle New Yorks und der Trump-Regierung in den USA.

 

„Dazu gehört das rasche Abdrehen von antisozialen Medien
und anderer manipulativer Meinungsblasen, aber dazu gehört auch tatsächlich
und selbstverzeihend an uns selbst zu arbeiten. Unsere individuellen und kollektiven Traumata
zu überwinden, uns in neuer Offenheit und Hingabe zur Natur zu begegnen.“

 

Der militärisch-industrielle Komplex ist der weltgrösste CO₂-Verursacher überhaupt. Und dennoch liest man nur wenig darüber, was nicht etwa an der bösen Weltverschwörung liegt, sondern daran, dass die gesamte Welt als Konsequenz der Dollar-Leitwährung quasi stillschweigend akzeptiert, dass die USA im Gegenzug für relative Stabilität und Wirtschaftswachstum die Rolle der „Weltpolizei“ übernommen haben, während man selbst dorthin exportiert oder investiert. Diese globale Schieflage macht nun allerdings keinen Sinn mehr. Die USA als Welthegemonie haben spätestens seit Trump ausgedient, insbesondere aber seit der Pandemie und ihrer Untätigkeit hinsichtlich Notwendigkeiten des Klimawandels. Dies muss und wird sich also ändern.

Der zweitgrösste CO₂-Ausstoss nach dem Energiesektor (worunter der genannte Komplex fällt) erfolgt übrigens im industriellen Landwirtschaftssektor – und genau den gilt es so rasch wie möglich umzubauen, ja sogar in weiten Teilen abzuschaffen. Tatsächlich sind restaurative, agroökologische und arbeitsintensive Formen der Landwirtschaft ungleich produktiver, resilienter, letztlich billiger, da keine Pestizide und Dünger notwendig sind, deren Herstellung mit enormen Externalitäten verbunden ist. Dazu schaffen sie noch Arbeit, die uns auf sensorieller und spirtueller Ebene dem Acker und der Erde mit all ihrer all-verbindenden Zyklen zwischen Werden und Vergehen näherbringen. 

Die aktuelle Pandemie führt uns vor Augen, was tatsächlich relevant ist für unser Dasein und ich bemerke ein Umdenken, dazu gehören auch Teile jener besorgten WutbürgerInnen, die für umfassende Änderungen einstehen, sich aber noch von rechtspopulistischen Rattenfängern vereinnahmen lassen. 

Denn zu guter Letzt – oder vielleicht in Wahrheit zu Beginn – steht eine hochgradig individuelle, subjektive Aufgabe an. Es geht dabei tatsächlich um eine Art Erweckung, um eine Selbstbefreiung, auch um eine Selbstermächtigung. Aber eine, die auf globaler Ebene notwendig ist, dringend notwendig ist. Dazu gehört das rasche Abdrehen von antisozialen Medien und anderer manipulativer Meinungsblasen, aber dazu gehört auch tatsächlich und selbstverzeihend an uns selbst zu arbeiten. Unsere individuellen und kollektiven Traumata zu überwinden, uns in neuer Offenheit und Hingabe zur Natur zu begegnen. Zuzuhören. Uns Zeit zu nehmen. Voneinander zu lernen. Innere Stärke und Frieden zu gewinnen, aber auch eine Art transzendentale Gelassenheit angesichts der Weltlage. Breite Reformen des Schulstoffes, hin zu regelmässigen Ethikkursen, Atemübungen, Tanz, Meditation, nicht-pathologisierende humanistische Ansätze der Psychologie und transnationaler Friedensarbeit könnten dabei helfen, sofern sie nicht bloss als weitere Identitätsmarker konsumiert, sondern tatsächlich kultiviert werden. Es geht darum, gerade in verstärkten Krisenzeiten seelisch und mental gesund zu bleiben und sich die Basics sozialer Kompetenz und diplomatischer Haltung wieder anzueignen und zu vertiefen. 

Dieser Prozess ist letztlich sowieso unaufhaltsam. Es liegt an uns, uns JETZT zu entscheiden, mit Haltung unterzugehen oder wenigstens zu versuchen, das Steuer noch ein Stück weit herumzureissen. Oder aber als panischer Haufen aufgeschreckter, verängstigter Menschen sich wie Lemminge in den Abgrund zu werfen.  

Und ich wünsche mir, dass 100.000ende für die Umsetzung solcher und ähnlicher tiefgreifender Reformen auf allen Ebenen auf die Strassen gehen, mit dem Mut zu wissen, dass es kein Zurück geben wird und auch nicht geben soll.

 

Foto: Karina Vivanco

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