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25. Oktober 2021, Kalifornien, Vereinigte Staaten

 

UN-Gipfel schweigt zu den Ursachen, warum unser Ernährungssystem versagt

 

Am UN-Ernährungssystemgipfel 2021 wurde die Chance vertan, echte Alternativen zu den von Konzernen gesteuerten, umweltschädlichen Produktionsmethoden für unsere Lebensmittel zu finden. Es hätte ein Sprung nach vorne für die Zukunft des Planeten sein sollen, aber stattdessen war es ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man einen Gipfel eben nicht durchführen sollte.
Der UN-Gipfel zu den Ernährungssystemen sollte eine Wende in unserem gescheiterten Ernährungssystem herbeiführen und den Weg in eine klimaresistente, ernährungssichere und gerechte Zukunft weisen. Stattdessen stehen wir wieder am Anfang: ein Sammelsurium von guten, schlechten und hässlichen «Lösungen», aber ein ohrenbetäubendes Schweigen zu den eigentlichen Ursachen der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind.

Ein internationales Gipfeltreffen zum Thema Ernährung war längst überfällig. Unser Ernährungssystem funktioniert weder für die Menschen noch für die Tiere oder den Planeten. Die Lebensmittelproduktion setzt grosse Mengen an Treibhausgasen frei, die den Planeten erwärmen und für 37 Prozent der Emissionen verantwortlich sind. Fettleibigkeit und Unterernährung nehmen zu, während die Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers ins Gegenteil umschlagen: Im vergangenen Jahr musste ein Zehntel der Weltbevölkerung hungern.

Eine Veränderung der Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, verarbeiten und konsumieren, ist der Schlüssel zur Bewältigung all dieser Probleme. Das Gipfeltreffen war eine entscheidende Gelegenheit, um die Art von Veränderungen herbeizuführen, die ausserhalb dieser aussergewöhnlichen Momente schlicht nicht möglich sind. Was ist also schiefgelaufen?

Der übermässige Einfluss der Konzerne auf den Gipfel – ein Sektor, der weitgehend für den schlechten Zustand der Ernährungssysteme verantwortlich ist – hat von Anfang an für Kontroversen gesorgt. Das Gipfeltreffen ging eine enge Partnerschaft mit dem Weltwirtschaftsforum ein, einer privatwirtschaftlichen Organisation, die gegründet wurde, um die Interessen der Wirtschaft zu vertreten. Zudem wurde es von der Bill and Melinda Gates Foundation gesponsert, deren Verbindungen zum Privatsektor kein Geheimnis sind.

Dies führte zu einem Boykott durch Gruppen, die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten vertreten, bis hin zu internationalen Nichtregierungsorganisationen. Ihre Bedenken waren wohlbegründet. Die Lebensmittel- und Agrarindustrie hat im Vorfeld des Gipfels die Transformation des Ernährungssystems thematisiert und dabei unter anderem die Themen Klima, Lebensgrundlagen, Natur und Transparenz angesprochen. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass sich die Konzerne an die Regeln halten, wenn die Regierungen sie nicht zur Verantwortung ziehen.

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Zum Autoren

Dr. Hans Rudolf Herren (1947, Schweiz) ist ein Insektenforscher, Landwirtschafts- und Entwicklungsexperte. Als Pionier in der biologischen Schädlingsbekämpfung bekämpfte er in den 1980er Jahren in Subsahara-Afrika erfolgreich die Schmierläuse, die dort das wichtige Grundnahrungsmittel Maniok bedrohten. Damit rettete er das Leben von über 20 Millionen Menschen. Als erster Schweizer wurde Herren dafür 1995 mit dem Welternährungspreis ausgezeichnet. 1998 war er Mitbegründer von Biovision, mit der er 2013 den Alternativen Nobelpreis «Right Livelihood Award» gewann. Er ist Präsident des Millennium Institute (Washington DC) und im Vorstand des Internationalen Verbands der ökologischen Landwirtschaftsbewegungen (IFOAM) tätig. Hans R. Herren lebt in Kalifornien.

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Mangelnder Ehrgeiz war ein weiteres grosses Hindernis für den Erfolg. Die Notwendigkeit einer umfassenden Reform war noch nie so klar wie heute: Neue Zahlen aus der vergangenen Woche belegen, dass 87 Prozent der weltweiten Agrarsubventionen in Höhe von 540 Milliarden US-Dollar dem Klima, der Natur und der menschlichen Gesundheit schaden. Dennoch ist es dem Gipfel nicht gelungen, einen klaren Kurs in Richtung einer nachhaltigeren Lebensmittelproduktion einzuschlagen.

Es hat sich gezeigt, dass die Agrarökologie die Ernteerträge um fast 80 Prozent erhöht, den Zugang der Menschen zu Lebensmitteln verbessert und den Hunger reduziert, die Einkünfte der Bäuerinnen und Bauern steigert und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Überschwemmungen, Dürren und anderen Schocks erhöht. Nichtsdestotrotz ist die Agrarökologie nach wie vor stark unterfinanziert.

Zwar wurden auf dem Gipfel einige Zusagen zur Reform der Subventionen gemacht und einige Regierungen beginnen, die Agrarökologie ernst zu nehmen. Die meisten Fonds werden jedoch weiterhin einen Ansatz unterstützen, der mehr oder weniger dem «Business as usual» entspricht. So diente der Gipfel beispielsweise als Startrampe für AIM (Agriculture Innovation Mission for Climate), eine US-Klimainitiative zur Förderung einer «klimaintelligenten» Landwirtschaft, die sich weitgehend darauf konzentriert, die Klimaauswirkungen der derzeitigen – stark umweltverschmutzenden – Lebensmittelproduktion abzumildern, statt zu wirklich nachhaltigen landwirtschaftlichen Systemen überzugehen.

Das Gipfeltreffen wurde auch genutzt, um Spenden für die Alliance for a Green Revolution in Africa (AGRA) zu sammeln. Diese Initiative wird von der Gates-Stiftung finanziert und von Agnes Kalibata, der Sonderbeauftragten des Gipfels, geleitet. Mehr Geld für AGRA bedeutet mehr Lösungen von oben nach unten, die für die Afrikanerinnen und Afrikaner und nicht mit ihnen entwickelt werden.

 

„Die Regierungen müssen auf bestehenden Institutionen wie dem Ausschuss
für Ernährungssicherheit aufbauen und dürfen diese nicht untergraben.“

 

Das letzte Aushängeschild des Gipfels war eine von oben nach unten gerichtete intransparente Arbeitsweise. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der «Scientific Group», die eingerichtet wurde, um die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger schnell zu beraten, die aber wegen ihrer Voreingenommenheit zugunsten industriefreundlicher High-Tech-Lösungen in die Kritik geraten ist.

Die Organisatoren sahen sich gezwungen, die Pläne aufzugeben, diese Gruppe in ein ständiges Gremium umzuwandeln. Die Versuche, diese Version der Wissenschaft voranzutreiben, werden den Gipfel jedoch überdauern und drohen, die wichtige Arbeit bestehender Institutionen wie des Ausschusses für Welternährungssicherheit zu untergraben, in dessen wissenschaftlichem Gremium eine grössere Bandbreite von Stimmen, einschliesslich der Produzentinnen und Produzenten sowie der Zivilgesellschaft, vertreten ist.

Zusammengenommen haben diese Versäumnisse zu einem Gipfel geführt, der uns weiter von wirklichen Lösungen für die Ernährung und das Klima entfernt hat. Wie geht es nun weiter?

Um wieder auf den richtigen Weg zu kommen, muss ein Konsens über Ideen wie die Agrarökologie geschaffen werden, die nachweislich etwas bewirken. Damit dies erreicht werden kann, müssen die Regierungen auf bestehenden Institutionen wie dem Ausschuss für Ernährungssicherheit aufbauen und dürfen diese nicht untergraben. Denn sie werden von den Menschen unterstützt, die an vorderster Front von der Ernährungs-, Gesundheits- und Klimakrise betroffen sind. Dies ist das richtige Forum, um die Agenda für die Transformation unserer Ernährungssysteme wieder aufzugreifen und die Ideen voranzubringen, mit denen dies erreicht werden kann.

Der Klima- und der Biodiversitätsgipfel bieten uns eine weitere Chance, die Transformation des Ernährungssystems auf den Tisch zu bringen. Die Regierungen müssen diese Chance erkennen und ein faires und nachhaltiges Ernährungssystem in den Mittelpunkt eines Abkommens zur Senkung der CO2- und Methanemissionen, eines Abkommens zur Reduzierung der Entwaldung und von Ausgabenentscheidungen stellen.

Der Gipfel zu den Ernährungssystemen hat das «Business as usual» als etwas Neues aufgetischt. Angesichts der dringenden Klima-, Gesundheits- und Umweltkrisen können wir es uns nicht leisten, diesen Fehler erneut zu begehen.

 

Dieser Artikel ist am 23. September auf der Website der Thomson Reuters Foundation erstveröffentlicht worden. Die Übersetzung des Texts aus dem Englischen erfolgte durch Textcontrol, Zürich. Der Artikel ist seit Anfang Oktober auf der Webseite biovision.ch aufgeschaltet und erschien am 19. Oktober 2021 auch in der Zeitung «Zeit-Fragen».

 

Foto: Peter Luethi

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