Wie sich Covid-19 in unserem Körper verhält, ist weitgehend unklar. Klar ist hingegen, dass unser Immunsystem der einzig wirksame Mechanismus ist, um ein Virus zu bekämpfen. Die Stärke dieses Systems hängt nicht nur davon ab, wie wir uns ernähren und bewegen, sondern auch,
wie wir jenen Organismus behandeln, der Leben erst ermöglicht: unser Planet, die Erde.
14. April 2020, Quito – In den vergangenen Wochen zirkulierten bei Facebook&Co. Fotos von weissen Schwänen und Delfinen, die angeblich das kristallklare Wasser der leeren Lagune Venedigs zeigten. Normalerweise ist der Ort überfüllt mit TouristInnen, die per Flugzeug, Zug, Auto oder Schiff anreisen und die norditalienische Stadt in ein Ambiente verwandeln, in der diese Tiere nicht leben können. Dies zumindest war die Botschaft der Publikation, die im Internet hunderttausende Male um die Welt ging. Und obwohl es stimmt, dass weltweit andere Lebewesen auf Grund der aktuellen Inaktivität des Menschen ihren Lebensraum zurückgewinnen: Die Nachricht aus Venedig war falsch. Die Fotos der Schwäne wurden auf der Insel Burano sieben Kilometer östlich der Stadt aufgenommen. Die Delfine tauchten an der Küste Süditaliens auf.
Natürlich sind solche Fake News ärgerlich – umso mehr, als dass derzeit Millionen von Menschen zu Hause sitzen und wie selten zuvor auf faktisch belegte Informationen angewiesen sind. Was uns das Beispiel und dessen virale Reproduktion zeigt, ist die Tatsache, dass die Menschen – vielleicht ebenfalls wie selten zuvor – gute Nachrichten sehen, hören und reproduzieren wollen. Der tänzelnde Ronaldo, die tanzende Shakira oder PolitikerInnen, die von einer besseren Zukunft schwadronieren, sind Nebensache. Wenn es zum jetzigen Zeitpunkt also einen positiven Aspekt der Pandemie gibt, dann jener, dass sich ein Teil der Menschen bewusst wird, wie wichtig eine intakte Umwelt ist und wie sehr wir diese durch unser Produktions- und Konsummodell schädigen. Letztlich ist die Umwelt der erste Faktor, der unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden beeinflusst.
Es mag abstrakt erscheinen, aber unsere Umwelt ist der Planet Erde. Es ist dieser Urorganismus, der unser Leben überhaupt ermöglicht. Die Erde versorgt uns mit Luft zum Atmen, mit Wasser zum Trinken und mit Boden für den Anbau unserer Nahrungsmittel. Und dennoch haben wir während der vergangenen Jahrhunderte, insbesondere aber seit der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts alles unternommen, um diesem Organismus den Garaus zu machen. Wir haben unsere Umwelt als nie versiegende Rohstoffquelle betrachtet und sie in eine einzig grosse Produktionsmaschine verwandelt, und zwar so, als ob’s kein Morgen gäbe. Dadurch haben wir ihre Flüsse und Meere verschmutzt, ihre Wälder und Mangroven gerodet, ihre Berge und Böden ausgebeutet, und ohne uns bewusst zu sein, haben wir begonnen, uns selbst zu verschmutzen. Heute atmen wir Luft, essen Lebensmittel und trinken Wasser mit Schwermetallen, giftigen Chemikalien und anderen Elementen, die unserem Körper schaden.
Hinzu kommt die psychische und soziale Verschmutzung. Unser Zusammenleben ist geprägt von Konkurrenz, Gewalt und Ausgrenzung. Oder spielte Solidarität vor Covid-19 tatsächlich eine zentrale Rolle in unserem Alltag? Wir lebten gestresst, um Ende Monat die Rechnungen bezahlen zu können, gestresst, weil wir uns selber unter Druck setzen oder weil der Chef bis zum Tagesende dringend weiss Gott was brauchte. Gesundheit war Nebensache und – ebenfalls ohne es zu merken – wir wurden immer kränker. Zur Ablenkung dröhnten wir uns ab Feierabend mit Facebook&Co. oder einer anderen Droge zu, oder schmissen irgendwelche Pharmaka ein, mit Vorliebe Schlafmittel oder Antidepressiva. Nur so fanden wir Ruhe.
Die Umwelt ist das Immunsystem des Planeten Erde.
Deshalb sollten wir es schützen und stärken und nach Aufhebung
des Lockdowns nicht zu jenem Alltag zurückkehren, den wir für normal hielten.
Nein, ausgewogene Beziehungen hatten wir in den westlichen Industrienationen weder zur Umwelt, noch zu unseren Mitmenschen, noch zu uns selber. Und wenn, dann nur ganz vereinzelt. Entsprechend einfach ist es für ein Virus in unsere Körper einzudringen und unsere hochgelobte Hochleistungsgesellschaft lahmzulegen. Weder unsere physischen Abwehrkräfte (das Immunsystem) noch unsere emotionale Verfassung (Stress) sind dafür gewappnet. Covid-19 sollte nicht verharmlost werden. Es gilt, wachsam zu bleiben und gewisse Vorsichtsmassnahmen einzuhalten – nicht zuletzt auch deshalb, weil die vergangenen Wochen gezeigt haben, dass kaum ein Gesundheitssystem dieser Welt auf eine Pandemie vorbereitet ist.
Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, in welchem Zustand uns diese Pandemie erreicht hat: inmitten von multiplen Krisen, sowohl in Bezug auf unser Zusammenleben als auch auf die Umwelt. Als Stichworte seien Migration, Wirtschaft, Rohstoffausbeutung, Kriege, Frauenmorde, Altersarmut, Klassenkampf oder Klimawandel genannt. Wie viele Wälder haben 2019 gebrannt? Wie viele Tonnen Fische wurden aus den Meeren gefischt? Wie viele Quadratkilometer Eis sind geschmolzen? Wie viele Milliarden Schweine, Kühe und Hühner zur Schlachtbank geführt? Wie viele neue Bergbauprojekte aus dem Boden gestampft? Und wie viel Erdöl, und damit C02, wurden über Verbrennungsmotore von Flugzeugen, Schiffen, Lastwagen und Autos in die Atmosphäre geschleudert?
Die Angst vor einer Pandemie kam plötzlich, jene vor den Folgen unseres täglichen Handelns hingegen ist schleichend. Doch spätestens jetzt, da unsere Verletzlichkeit als Gesellschaft grossflächig ans Licht getreten ist, dürften Fragen auftauchen, von denen wir bisher gar nicht wussten, dass sie existieren.
Um Viruserkrankungen auf die Schliche zu kommen, berücksichtigen Virologen generell drei Faktoren: das Virus selbst, den Wirt (im Falle von Covid-19 wir Menschen) und die Übertragungswege. Einige Wissenschaftler ziehen inzwischen einen vierten Faktor hinzu – einer, der über den anderen dreien steht. Es ist die Umwelt. Sie entscheidet im Verbund mit ihren BewohnerInnen, wozu wir Menschen gehören, mit, ob und wie sich ein Virus ausbreitet, und ob wir derart leichte Beute sind, wie derzeit beim Covid-19. Die Umwelt ist quasi das Immunsystem des Planeten Erde. Deshalb sollten wir es schützen und stärken und nach Aufhebung des Lockdowns nicht zu jenem Alltag zurückkehren, den wir für normal hielten.
Text: Romano Paganini
Hauptbild: Der Mensch, abgeschnitten von der Umwelt? Jahrhunderte alter Baumstamm im Redwood-Forest im gleichnamigen Nationalpark in Kalifornien, USA. (mutantia.ch)