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23. Dezember 2021, West Cork, Irland

 

Wie der Fall Assange mit der Überwachung unseres Alltags zusammenhängt

 

Erneut muss Julian Assange einen Rückschlag hinnehmen: Das Londoner High Court kippte am vergangenen Freitag die Entscheidung des Bezirksgerichts Westminster Magistrates Court, ihn aus gesundheitlichen Gründen und wegen wahrscheinlich repressiver Haftbedingungen nicht in die USA auszuliefern. Nun liegt der Fall wieder beim Bezirksgericht, das den Auslieferungsentscheid an die britische Innenministerin Priti Patel zur Unterschrift weiterleiten soll. Die Verteidigung von Julian Assange hat angekündigt in Berufung zu gehen. 

Assange und Wikileaks waren 2006 angetreten, um digitales Licht ins Dunkel von Staats- und Industriegeheimnissen zu bringen. Sie veröffentlichten hunderttausende von Originaldokumenten, die auf Korruption, Kriegsverbrechen und den Tod von zehntausenden Zivilisten in den von den USA und dem Vereinigten Königreich angezettelten Kriegen in Afghanistan und dem Irak hinwiesen.  

Sehr schnell begriffen die Hüter dieser tödlichen Geheimnisse, worum es ging und das US-Verteidigungsministerium formulierte umgehend eine Strategie, um dieser Transparenzplattform und deren Unterstützern den Boden zu entziehen. Deshalb wird Julian Assange seit 2010 von seinen Gegnern gnadenlos verfolgt. Er liess sich dadurch jedoch nicht einschüchtern – zumindest solange man ihn noch hören konnte. So sagte er zum Beispiel in „Hacking Justice“, einem Film über ihn und Wikileaks: „Ich habe oft gesagt: Transparenz für die Mächtigen, Privatsphäre für die Machtlosen.“  

Derweil sitzt Julian Assange seit zweieinhalb Jahren in einer Zelle im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. In Wirklichkeit sind es mehrere Zellen, denn der inzwischen 50-Jährige ist bereits mehrmals verlegt worden. Während zwei Verhandlungstagen im Februar 2020 wurde er beispielsweise in fünf verschiedenen Zellen festgehalten. 

Diese Methoden, um von der eigenen Unfähigkeit abzulenken, wurden von den britischen Strafverfolgungsbehörden schon früher angewendet, etwa im Falle der Guildford Four. Dabei hatten die desorganisierten aber harmlosen jungen Menschen mit den ihnen 1974 zur Last gelegten Bombenanschlägen auf zwei Pubs im südöstlichen England nicht das Geringste zu tun. Sie befanden sich lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Und die britischen Behörden, die damals während eines Höhepunkts der IRA-Anschläge auf britischem Festland unter enormem Erfolgsdruck standen, benutzten die Guildford Four als Sündenböcke, aus denen falsche Geständnisse herausgepresst werden konnten. Und obwohl die Verantwortlichen von deren Unschuld gewusst haben dürften, wurden die vier zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.  

Damals wie heute ging es um Abschreckung und Hilflosigkeit. Wenn vier Unschuldige trotz Protesten von Öffentlichkeit, Medien und Politikern 15 Jahre im Gefängnis sitzen, ohne dass sich die Behörden zu Zugeständnissen erweichen lassen, dann wirkt das abschreckend auf Menschen, die sich auf legale Art und Weise mit den sie unterdrückenden Strukturen anlegen möchten. Und das betrifft uns letztlich alle. Denn Julian Assanges Gefangenschaft steht symbolisch dafür, worauf wir als Individuen und als Gesellschaft(en) derzeit zusteuern. 

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Zum Autoren

Moritz Müller ist ein Münchner Kindl der 1960er Jahre. Aufgewachsen in Bonn am Rhein in Fühl- und Sichtweite von Politik. Teilnehmer der großen Friedensdemos in Bonn, und zur gleichen Zeit erste Computerversuche mit einem Sinclair ZX81. Zivildienst in München, dann dort in einer Töpferwerkstatt „beinahe unentbehrlich“ geworden. Ausserdem Installateur, Möbelpacker, Anstreicher und generell Mitglied der „letzten Reihe“ beim Münchner StudentenServis des Arbeitsamts. Ansonsten nie richtig im akademischen Betrieb heimisch geworden. Seit Mitte der 1980er Jahre aktiver Teilnehmer an der irischen Pub-Culture, wo der Pub als Job-Börse, Treffpunkt und Gesangsverein funkionier(te). Mittlerweile über die Hälfte seines Lebens ständiger Bewohner der grünen Insel und dort als „General Handyman“ tätig, inklusive Ausflügen in den Gartenbau und verschiedene Wassersportarten. Co-Produzent von Worst Case Scenario“ und Geburtshelfer bei „Happy Hour“. Seit Ende 2017 journalistisch tätig, unter anderem für die NachDenkSeiten, wo sich zahlreiche Artikel zum Thema Pressefreiheit, Wikileaks und irische Geschichte finden. Seit 2019 vielfache Londonreisen in Sachen Freiheit für Julian Assange“.

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Während wir BürgerInnen im Zuge der Digitalisierung immer gläserner werden, agieren Konzerne und Regierungen mit zunehmender Intransparenz. So sind wir während den vergangenen zwei Jahren immer wieder aufgefordert worden, uns an immer mehr Orten elektronisch auszuweisen und auf unseren Handys Kontaktverfolgungsapps zu installieren. Gleichzeitig kann oder will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen keine Auskunft darüber geben, ob es mit dem Impfstofflieferanten Pfizer/Biontech geheime Absprachen gegeben hat, die per SMS stattgefunden haben sollen.
Offenbar sind Archivierungen von SMS oder Messenger-Diensten wie WhatsApp oder Signal gar nicht vorgesehen, wie eine Recherche von netzpolitik.org  zeigt. Als Antwort auf eine Beschwerde heisst es lapidar: „Solche Nachrichten seien ‚von ihrer Natur her kurzlebig‘ und würden daher weder in der formellen Entscheidungsfindung zum Einsatz kommen, noch produzierten sie verbindliche Zusagen der Institution. Daher seien bislang noch nie SMS oder Messenger-Nachrichten im Archivsystem der Kommission abgelegt worden. Auch fehle es an einem technischen System, um das leicht tun zu können.“ 

Während also die Handys von uns allen grossflächig überwacht werden hält es die EU-Kommission nicht für nötig, dienstliche Kurznachrichten ihrer Mitglieder und Angestellten zu archivieren. Ja es existieren nicht einmal die technischen Voraussetzungen! Angesichts der heutigen IT-Möglichkeiten klingt das nach einer bequemen Ausrede.

Der bereits existierende Graben zwischen „gläsernem Bürger“ und institutioneller Intransparenz hat sich seit Auftauchen der Corona-Politik jedenfalls rasant vergrössert. So wurden beispielsweise zu Beginn der Pandemie chinesische Kontaktverfolgungsapps von den Medien und Politikern der „freien Welt“ belächelt und beargwöhnt – um sie wenige Wochen später bei uns mit grossem Brimborium ebenfalls einzuführen. Ähnlich verhält es sich mit der inzwischen ernsthaft diskutierten allgemeinen Impfpflicht gegen Covid-19, die vor nicht allzu langer Zeit noch von denselben Personen vehement abgelehnt wurde. 

Die Corona-Maßnahmen-Politik wird mittlerweile in vielen Ländern per Dekret gemacht – und/oder in verängstigten Parlamenten als alternativlos durchgewunken. Wer dort oder in der Öffentlichkeit Fragen stellt oder kleinste Zweifel äussert, wird als Rechtsextremer oder Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt. Dabei wird die Richtung oftmals von Gremien vorgegeben, die sich aus nicht gewählten ExpertInnen, ForscherInnen und PolitikerInnen zusammensetzen. Die Universitäten aus denen viele dieser Experten stammen, sind heute mangels öffentlicher Förderung, auf Gelder aus privater Hand angewiesenAuch das Robert-Koch-Institut erhält Drittmittel. Und es überrascht nicht, dass Verflechtungen zur (Pharma)-Industrie Teil des Ganzen sind. Auch diesbezüglich mangelt es oft an Transparenz. Hinzu kommt, dass an Schulen und Hochschulen hauptsächlich Software großer multinationaler Konzerne genutzt wird, obwohl es auch andere Systeme gibt, bei denen die BenutzerInnen verstärkt im Besitz der eigenen Daten bleiben. 

 

„Wenn Bargeld als Alternative eines Tages nicht mehr existiert, können die, die das Netzwerk,
oder Teile davon kontrollieren, es gegebenenfalls auch einfach ausschalten, und einzelne Beteiligte aus der Gemeinschaft aussperren – und damit vom Leben an sich.“

 

Leider sind wir mitverantwortlich für die Erosion unserer persönlichen Freiheiten und der zunehmenden Kontrolle, die jederzeit über uns möglich ist. Dadurch, dass die meisten Menschen ständig ein Handy mit sich tragen, das sich in vielen Fällen gar nicht mehr wirklich ausschalten lässt, weil die Batterie fix verbaut ist, lässt sich ihr Standort quasi ununterbrochen erheben. Wir kommunizieren digital, was sich einfach speichern und automatisch lesen lässt. Wir kaufen jeden Kaffee und jedes Bierchen mit der Kreditkarte, oft aus Bequemlichkeit. Dabei hinterlassen wir Spuren in Bezug auf unsere Verhaltensweisen – Spuren, die es beim Bargeld weniger gibt.  

Im Moment wird Bargeld noch von staatlichen Institutionen ausgegeben, und der Geldfluss zusammen mit privaten Banken organisiert und verwaltet. So wie das bargeldlose Zahlen im Zuge der „Hygienemassnahmen“ derzeit propagiert wird, lässt sich allerdings absehen, dass der elektronische Zahlungsverkehr dereinst nur noch von privaten Firmen organisiert werden soll, die uns BürgerInnen gegenüber nicht wirklich rechenschaftspflichtig sind. Bereits heute finde ich es schwierig bei meiner Bank eine Person ans Telefon zu bekommen, von einem persönlichen Gespräch ganz zu schweigen. Bei meiner Bank scheinen die physisch anwesenden MitarbeiterInnen nur noch dazu da zu sein, den Kunden für die Bank lukrative Produkte zu verkaufen. 

Anders läuft es beim elektronischen Zahlungsverkehrs, also auch bei den sogenannten Kryptowährungen: Der Kunde ist in erster Linie auf den Anschluss an das eine oder andere elektronische Netzwerk angewiesen. Sollten diese Netzwerke allerdings einmal ausfallen, ist keine monetäre Kommunikation mehr möglich. Wenn Bargeld als Alternative eines Tages nicht mehr existiert, können die, die das Netzwerk, oder Teile davon kontrollieren, es gegebenenfalls auch einfach ausschalten, und einzelne Beteiligte aus der Gemeinschaft aussperren – und damit vom Leben an sich. Da wird die Luft dünn für Dissidenten, Andersdenkende und Unerwünschte.  

Ein Vorgeschmack, auf das was uns erwarten könnte, lässt sich einmal mehr vom Fall Assange ablesen. So wurden Ende 2010 mehrere Bankkonten von ihm und Wikileaks eingefroren. Dasselbe geschah vor einigen Monaten auch mit den Credit-Suisse-Konten des chinesischen Künstlers und Dissidenten Ai Weiwei. Eine bequeme Form der Mächtigen, sich ihrer KritikerInnen zu entledigen.

 

„Es ist offensichtlich, dass sich Julian Assange im Vergleich zu den meisten von uns in einer extremen Lage. Doch wenn wir keinen Widerstand leisten – sowohl im Großen wie im Kleinen –
werden wir unaufhaltsam in dieselbe Richtung treiben: jene der Unfreiheit.“

 

Warum wir in diese Richtung taumeln oder sogar begeistert mitmachen, ist schwer nachvollziehbar. Sicherlich spielt die Bequemlichkeit auf dem vorgegebenen Weg zu bleiben eine Rolle. Hinzu kommt die Propaganda der vermeintlichen Sicherheit, für die die BürgerInnen hier und da eben auch mal „kleine Freiheiten“ aufgeben müssen.
Noch gibt es die Möglichkeit, sich dieser Entwicklung punktuell zu entziehen. Darin besteht wohl unsere letzte Chance, bevor die totale Kontrolle durch Regierungen und die mit ihnen verbundenen Konzerne eintritt. Im Folgenden eine unvollständige Liste an Tipps:  

  • Handy Zuhause lassen, ausschalten und möglicherweise in einer abgeschirmten Tasche aufbewahren 
  • Dateien und Dokumente auf dem eigenen Computer bearbeiten und kommentieren, ohne sie in eine Cloud hochzuladen 
  • Wenn immer möglich mit Bargeld bezahlen, solange man wegen fehlendem Zertifikat nicht ausgesperrt wird oder die betreffenden Geschäfte, Kneipen oder Restaurants maßnahmenbedingt noch nicht Pleite gegangen sind 
  • Nachbarn oder Freunde besuchen und mit ihnen ohne elektronische und überwachbare Hilfsmittel kommunizieren, solange keine Kontaktbeschränkungen erlassen und durchgesetzt werden  

 

Wie sich die Verlagerung unserer Kommunikation in den digitalen Bereich, in dem sich weder fühlen noch riechen lässt und in dem man nur begrenzt sehen und hören kann, auf uns auswirkt, wird sich wohl erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zeigen. Auch auf die Frage, wie sich die analoge Kommunikation entwickelt, wenn unsere Mimik hinter Masken verborgen bleibt, wird es wohl erst in ein paar Jahren Antworten geben. Kinder und Jugendliche, die Kommunikation in all ihren Formen gerade erst am Erlernen sind, sind von den Masken besonders betroffen – und dies sollte unbedingt be- und überdacht werden. Wenn wir gezwungen werden, unsere Kinder zu maskieren, ist meines Erachtens eine Grenze überschritten, ab der Widerstand zwingend notwendig wird. 

Doch zurück zu Julian Assange und seiner Mission, die Welt über Risiken, Gefahren und auch Chancen des Cyberspace aufzuklären: Meines Erachtens spiegelt sich seine Hilflosigkeit heute in der individuellen und gesellschaftlichen Hilflosigkeit wider. Es ist offensichtlich, dass sich Julian Assange im Vergleich zu den meisten von uns in einer extremen Lage befindet. Doch wenn wir keinen Widerstand leisten – sowohl im Großen wie im Kleinen – werden wir unaufhaltsam in dieselbe Richtung treiben: jene der Unfreiheit. Deshalb müssen wir unbedingt miteinander im direkten Gespräch bleiben: am Küchentisch, bei der Arbeit, im Park.  

Und auch sollten wir eigene Alltagserfahrungen mit dem abgleichen, was wir in den Medien hören und sehen. Denn oft lohnt es sich, den Fernseher und das Radio auszuschalten, etwa wenn einem die Nachrichten zu manisch und repetitiv erscheinen. Wenn wir nicht aufpassen, besteht die Gefahr, dass der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird. Sollte es uns gelingen, Julian Assange durch öffentlichen Druck aus dem Gefängnis zu befreien, wäre dies ein kraftvolles Symbol dafür, dass wir vielleicht doch nicht gänzlich machtlos sind.

 

Foto: Selbstaufnahme

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