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16. Dezember 2021, Quito, Ecuador

 

Zuneigung wird zu einem Grundbedürfnis

 

Seit März 2020 erleidet die moderne Welt, die sich ohnehin inmitten der Apokalypse des Neoliberalismus befindet, einen neuen Schlag, der in jedem Winkel des Planeten zu spüren ist. Die Pandemie verstärkt sowohl das Versagen des sozioökonomischen Systems als auch die Fehlentwicklungen in der Beziehung des Menschen zur Natur und zu den Tieren, und stellt die bis anhin geführte Lebensweise in Frage. Sie zwingt die grosse Mehrheit der Menschen in eine Enge, die das familiäre und öffentliche Leben verändert und das Sozialgefüge umpflügt – und zwar mit Folgen, die nach wie vor nicht absehbar sind.

Der Privilegierte, der es sich leisten kann zu Hause zu bleiben, wird seither gezwungen, sich in den einzig geschützten Raum zurückzuziehen: seine Träume. Der öffentliche Raum reduziert sich auf das Wohnzimmer. Das Schlaf- sowie Esszimmer sind keine privaten Räume mehr für Freizeit und tägliche Rituale. Sie werden kurzerhand zu Büros und Klassenzimmern, in denen das produktive Leben trotz Pandemie über den Bildschirm weiterläuft. Mit der allgegenwärtigen Furcht vor der Krankheit nähert der kollektive Tod sich wieder einmal der menschlichen Erfahrung. Millionen Menschen werden krank, Tausende sterben. Und die Träume intensivieren sich. Dort soll nun also all das stattfinden, was sich im materiellen Leben, im Körper, nicht mehr leben lässt? Ist das letztlich der Ort, an dem wir uns doch noch emanzipieren?

Masken werden zur Pflicht und die Hälfte der Gesichter verschwindet. Das Leben wird prekärer (für viele bis hin zur Verelendung) und die Überwachung der BürgerInnen nimmt zu. Die Möglichkeiten einer Begegnung oder die Aussicht darauf, dass etwas Neues die Routine durchbrechen könnte, rücken in die Ferne. Fast alles wird eingeschränkt, ausser natürlich der Zugang zum Bildschirm. Klammerbemerkung: Weltweit müssen tausende von Kindern und Jugendlichen ihre Ausbildung abbrechen, weil es sowohl wirtschaftlich als auch technisch schwierig ist, sich täglich acht Stunden für den virtuellen Unterricht einzuklinken. Hier in Ecuador wurden zeitweise zwar die Parkanlagen geschlossen, aber Banken und Einkaufszentren blieben geöffnet. Die BürgerInnen entwickeln sich zu Polizisten der anderen, die Überwachungsgesellschaft installiert sich mit zusätzlicher Gewalt. Die ohnehin schon eingeschränkten Freiheiten der Menschen werden verstärkt auf die Möglichkeit des Konsums reduziert.

Was hingegen nie aufhört zu brummen, sind die Maschinen, die die Wälder zerstören. Und auch die Tiere in den Schlachthöfen haben keine Ruhepause. Die Supermärkte sind nicht in der Lage, die Menge an Fleisch zu liefern, die die VerbraucherInnen in ihren Gefriertruhen aufbewahren wollen, falls die Apokalypse mit der Wucht von Science-Fiction-Filmen ausbrechen sollte. Die Mächtigen haben also nicht damit aufgehört, Strategien zu entwickeln, um sich Leben und Tod zu eigen zu machen.
Es ist schon merkwürdig, dass wir Menschen in der Lage sind, uns anzupassen, indem wir unsere Sauerstoffzufuhr und unsere Möglichkeiten zur Geselligkeit reduzieren, uns aber nicht vorstellen können, wie eine Welt ausserhalb des Kapitalismus aussehen könnte. 

Die Welt war bereits vor der Pandemie in die virtuelle Phase des Kapitals getreten. Durch den virtuellen Markt an Informationen, auf dem Daten an Stelle von Objekten und Erfahrungen treten, begannen materielle Dinge an Wert zu verlieren. „Wahrheiten“ werden konstruiert und verbreitet, unabhängig davon, wie weit sie von der Realität entfernt liegen. So hat die Pandemie die Virtualisierung unserer Leben auf eine neue Stufe katapultiert. Heute scheint die Realität nicht viel mehr zu sein als das, was die sozialen Netzwerke projizieren. Und die politische Klasse ist sich dessen bewusst.

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Zur Autorin

Martamaría Lasso (1980, Ecuador) ist Literatur- und Kommunikationswissenschaftlerin, Lehrerin und Lernende der Sprach- und Sozialwissenschaften, und lebt mit ihren beiden Kindern im Teenageralter in Quito. Im Laufe ihres Lebens hat sie sich an kollektiven Theaterprojekten in Quito, Seattle und Vancouver beteiligt. In jüngster Zeit befasste sie sich mit den Themen Geschlecht, Rasse und Kolonialität und hat bei Projekten der niederländischen NGO „Hivos International“ mitgewirkt, die sich mit Gruppen junger Führungskräfte und Frauen aus dem Amazonas auseinandersetzen. Nebenbei engagiert sie sich ehrenamtlich in sozialen Hilfsprojekten für gefährdete Frauen und hat seit der Pandemie wieder intensiver mit ihren Händen zu arbeiten begonnen, in erster Linie Töpfern. Sie ist die Nichte des aktuellen Präsidenten Ecuadors, Guillermo Lasso.

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Aus meiner privilegierten Situation, die oft mit einer Portion Naivität einhergeht, erlebte ich diese erste Verlangsamung des Alltags mit einer Mischung aus Freude und neuer Hoffnung auf einen möglichen sozialen Wandel. Eine Art Neuordnung der Projekte und Prioritäten, die, so dachte ich damals, vielleicht planetarisch werden könnte. Gleichzeitig verspürte ich eine Art Schuldgefühl in Bezug auf das, was kommen könnte.

Meine Kinder und ich kochten gemeinsam, backten Brot, pflegten den Garten, tanzten, pflanzten Bäume, räumten vergessene Schubladen aus und sprachen stundenlang über Dinge, die wir aufgeschoben hatten. Wir lebten dieses relative Wohlergehen trotz des Schocks und der Angst vor der Seuche, die da lauerte und immer noch lauert. Denn während wir bequem von unserem Wohnzimmer aus und mit einer vollen Speisekammer im Rücken unsere Aufgaben virtuell verrichteten, wütete in Guayaquil, der grössten Küstenstadt Ecuadors, sowie in vielen der ärmsten Gegenden des Landes das Virus. Und all dies vor den Augen eines trägen und gleichgültigen Staates, dessen Eliten, charakterisiert durch ihre moralische Überlegenheit, all jene verurteilten, die ihr Zuhause verliessen. 

Nun, da fast zwei Jahre seit dem Ausbruch der Pandemie vergangen sind, und wir mitten in einer weltweiten Krise und der damit verbundenen Verschärfung der Armut vieler Menschen stecken, stelle ich fest, dass ich dieser „neuen Normalität“ mit einem gewissen Zynismus begegne. Denn gerade gut ein Jahr nach dem Landesstreik im Oktober 2019, der sich durch die grosse Solidarität zwischen der Stadt und dem Land ausgezeichnet hatte, gewann bei den Präsidentschaftswahlen der Kandidat der rechtskonservativen Partei. Beim Gewählten handelt sich um einen ehemaligen Banker und milliardenschweren Geschäftsmann, der sich seit über zehn Jahren um die Präsidentschaft bemühte und der gleichzeitig mein Onkel ist: der jüngste der elf Brüder Lasso Mendoza. Als Resultat seiner Arbeit wurde Guillermo Lasso zum Patriarchen, zum Reichsten und zu dem, der trotz seiner bescheidenen Herkunft ein Imperium aufbauen konnte und dem heute – vielleicht mehr denn je – fast die gesamte Familie huldigt.

Mein Vater Xavier Lasso war schon immer das schwarze Schaf: er, der Belesene, der Kommunist, der Atheist, der Strenge, der nicht wusste, wie man zu Geld kommt. Nicht wie seine Brüder und Schwager. Er kam in seinen Zwanzigern von Guayaquil nach Quito und blieb bis heute hier, wo er inzwischen siebzig Jahre alt und als linker Journalist tätig ist (manchmal – das möchte ich erwähnt haben – mit der Unfähigkeit, seine ideologischen Verbündeten zu kritisieren). Seit nunmehr über zehn Jahren befindet er sich in aktiver und öffentlicher Opposition zu seinem Bruder. 

 

„Wir werfen alle mit Kot aus unseren Schützengräben, aber wir organisieren uns nicht politisch.
Das liegt vielleicht daran, dass viele Familien und Freundschaften inzwischen zerbrochen sind.“ 

 

Am 2. Oktober 2021 veröffentlichte das „International Consortium of Investigative Journalists“ die Pandora Papers. Darin werden die Finanzgeheimnisse von 35 führenden Politikern der Welt enthüllt, darunter Guillermo Lasso, einer der drei Präsidenten Lateinamerikas, der grosse Vermögen in Steuerparadiesen besitzt. 

Seit Lasso an der Macht ist, wurden dank des Anstiegs des Erdöllpreises 8.130 Millionen Dollar für die Begleichung der Auslandsschulden eingespart – ein Rekord. Allerdings hat die Bevölkerung gleichzeitig keinen Zugang zur medizinischen Grundversorgung und wenn doch, dann steht sie vor überfüllten öffentlichen Krankenhäusern. Hinzu kommt die Bevorzugung der Oberschicht. So wurden Steuererhöhungen für die Mittelschicht beschlossen, parallel dazu aber die Abschaffung der Erbschaftssteuer sowie die schrittweise Senkung der Steuer auf Devisenabflüsse.
Zu alledem ist es während der vergangenen Monate seit seinem Amtsantritt zu verschiedenen Gefängnismeutereien gekommen, bei denen über 300 Personen umgebracht wurden. Das jüngste Massaker ereignete sich im November, als der Präsident bei einer Gala das US-Marine-Corps feierte. Nebst vielen anderen Unschuldigen kam damals auch Victor Guaillas Gutama ums Leben, ein Anti-Bergbau-Aktivist aus dem Süden des Landes. Ob jene, die für den Dschungel und sauberes Wasser kämpfen – ähnlich wie unter Präsident Rafael Correa (2007-2017) – inmitten einer Klimakrise weiterhin verfolgt und eingesperrt werden? Bleiben die Gefängnisse angesichts der Apathie der Gesellschaft eine Zermalmungsmaschine für Arme und Aufständische?  

Die Rückkehr zu einer rechtskonservativen Regierung ist meines Erachtens weit entfernt vom emanzipatorischen Wandel, den die Realität erfordert. Der alte antipolitische Zweiparteienstreit hat zu einer Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft geführt. Wir werfen alle mit Kot aus unseren Schützengräben, aber wir organisieren uns nicht politisch. Das liegt vielleicht daran, dass viele Familien und Freundschaften inzwischen zerbrochen sind. 

Die Rückkehr nach rechts ist eine Art Rückkehr zu kolonialen Idealen – allerdings mit Nuancen, die das allgegenwärtige Gesicht der Macht unsichtbar machen. Die eindeutige Priorisierung der Interessen der Eliten zeigt, dass die Kapitalisierung von Ressourcen nicht ohne Rassifizierung und Diskriminierung missbrauchter Körper möglich ist. Manche nennen es „Arbeitsplätze schaffen“. Dieser Slogan reicht offenbar, um die Ausbeutung zu rechtfertigen: Arbeit als ein Maximalwert. Es spielt keine Rolle, ob ein Arbeitnehmer nach 25 Jahren in den Ruhestand geht und seine Situation dieselbe ist oder gar schlechter, als bei seinem Eintritt in die Arbeitswelt. Das wird nicht hinterfragt.

Der Beruf wird nicht mehr als ein Ort des Wachstums und der Entfaltung des Selbst verstanden. Logisch, dass dies ohnehin nur bei privilegierten Arbeitsplätzen der Fall war, an denen der Einzelne Wissen und Fähigkeiten anhäuft, die Teil seines kulturellen und sozialen Kapitals werden. Für die Mehrheit war Arbeit immer schon lediglich ein Mittel, um das eigene Überleben zu sichern.

Das Schlimmste daran: Die Neo-Sklaverei erfordert keine gewaltsame Durchsetzung mehr. Schliesslich beuten sich die BürgerInnen der digitalen Welt selbst aus. Wir sind Zeugen des “Zeitalters der Errungenschaften”, will heissen: Es geht darum, herauszustechen, im Mittelpunkt zu stehen und um jeden Preis Beifall zu bekommen, ohne auf das Alltägliche zu achten. Jeder geht seinen eigenen Weg, absolut individualisiert und mediatisiert. Es gibt keine Gemeinschaften oder Gewerkschaften mehr, die sich gegen die Unersättlichkeit der Herren der Welt behaupten könnte. 

 

„Es schien, als stünde die Welt an der Schwelle eines tiefgreifenden Wandels.
Eine pluralistische Emanzipation, eine Hinwendung des Individuums und seines Liebespotentials
zur Gemeinschaft. Eine erotische und sexuelle Revolte schien sich anzukündigen.“

 

Die Geschichte der kapitalistischen Moderne beruht auf der Idee der Rasse. Dies ist in Ländern mit einer kolonialen Geschichte noch viel stärker spürbar. Ecuador war und ist immer noch eine Kolonie des Imperiums. Das Imperium hat sich zwar verändert, die Qualität der Kolonie allerdings nicht. Wir dienen als Quelle von natürlichen und menschlichen Ressourcen. Indigene und Mestizen werden nicht als politische Subjekte mit Rechten betrachtet, sondern als Marionetten des herrschenden Tyrannen oder aber als Zeichen eines kriminalisierten Aufstands. Häufig wird davon ausgegangen, dass die Bauern, die angesichts ihrer prekären Lebenssituation auf die Strasse gehen, dies lediglich aufgrund ihres paternalistischen Erbes tun, aus fehlendem Verantwortungsgefühl, aus Faulheit. Diese Sichtweise ist ein Ergebnis der Kolonialgeschichte. Denn die indigene Bevölkerung – oftmals Bauern – wurde von den hacenderos während Jahrhunderten als eigener Besitz betrachtet und die Verantwortung für die Sicherung ihres Lebensunterhalts war „ihrem“ Patron überlassen. Diese Wahrnehmung ignoriert allerdings die Tatsache, dass diejenigen, die mit ihren Händen auf dem Land arbeiten und uns also ernähren, jene sind, die in Wirklichkeit unsere Wirtschaft stützen.

Meiner Meinung nach muss das Engagement für Solidarität und Freundschaft angesichts der dunklen Zeiten noch stärker werden. Wir dürfen die Distanz zu anderen nicht verinnerlichen. Die Umarmung und die gemeinschaftlichen Rituale müssen mit verstärkter Kraft zurückkehren. Das Überleben sollte nicht der futuristische Traum derjenigen sein, die den Mars besiedeln wollen. Der lange Atem der Menschheit auf der Erde müsste aus dem Bewusstsein des Einsseins geschmiedet werden. Und so muss die Idee des Überlebens des Stärkeren neu interpretiert werden. Langlebigkeit wird nicht unbedingt dem Stärksten garantiert, sondern demjenigen, der am meisten kooperiert; demjenigen, der sich für das Gemeinsame einsetzt. Wir sind die Natur, wir sind das Tier und das Leben. Wir sind es der Welt und der Gemeinschaft schuldig. Schliesslich gibt es nur eine Menschheit. 

Ich muss zugeben, dass ich mich angesichts der Apathie gegenüber der neuen Normalität und der Verschärfung der neoliberalen Praktiken manchmal nach den Idealen sehne, die in der ersten Quarantäne greifbar waren. Es schien, als stünde die Welt an der Schwelle eines tiefgreifenden Wandels. Eine pluralistische Emanzipation, eine Hinwendung des Individuums und seines Liebespotentials zur Gemeinschaft. Eine erotische und sexuelle Revolte schien sich anzukündigen. Weibliches Vergnügen würde nicht mehr verurteilt, genauso wenig wie jenes der Queers, der Gays und der Transsexuellen. Die Hände würden zum Anfassen dienen und nicht nur in den Dienst der Industrie gestellt werden. Stattdessen würden die Körper und ihre Verschiedenartigkeit gefeiert.

Die Vernunft würde in den Dienst des Lebens gestellt. Flüsse und Meere würden gerettet und Tiere nicht mehr gequält werden. Die Beziehung zu Land und Lebensunterhalt würde geheilt, die Landwirtschaft würde wieder lokal und biologisch werden. Das Heilige würde in die materielle Welt zurückkehren. Wir würden freie und ausdrucksstarke Körper sein. Wir würden die Fülle feiern, indem wir tanzen und die im Mutterleib unterdrückten Schreie rauslassen. Wir würden wieder zum gegenwärtigen Bewusstsein finden, wieder unseren staunenden Blick sowie unseren Tast- und Geruchssinn entdecken. Wir würden uns mit freudiger Rebellion emanzipieren und aufhören, GegnerInnen zu sein. Und wir würden verstehen, dass in einer gemeinsamen Welt Platz für Kontraste und Widersprüche ist. Die rationale Angst vor dem Tod wäre nicht mehr die treibende Kraft für unser Handeln. Angesichts der Endlichkeit unseres Seins, würde Zuneigung zu einem Grundbedürfnis werden. Wir wären gleichzeitig rationale Tiere und wir wären Götter und Göttinnen. Und wir würden uns dem Geheimnis unseres Daseins hingeben.

 

Übersetzung aus dem Spanischen: Romano Paganini

Foto: Gaspar Navarrete Gangotena

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