Der Post-Pandemic-Planet und seine GastautorInnen aus aller Welt
- 18. Oktober 2021: Adriana Marcus aus Argentinien – Feminismus & Ökologie: Kämpfe, die das Kapital nicht verdaut
- 25. Oktober 2021: Hans R. Herren aus den USA – UN-Gipfel schweigt zu den Ursachen, warum unser Ernährungssystem versagt
- 22. November 2021: Nicolás Cambas aus Ecuador – Vom Nicht-Wissen und anderen Weisheiten
- 13. Dezember 2021: Iris Stewart-Frey aus den USA – Grenzen überwinden für den Umweltschutz
- 16. Dezember 2021: Martamaría Lasso aus Ecuador – Zuneigung wird zu einem Grundbedürfnis
- 20. Dezember 2021: Johannes M. Waldmüller aus Österreich – Über innere Besinnung zur neuen Weltarchitektur
- 23. Dezember 2021: Moritz Müller aus Irland – Wie der Fall Assange mit der Überwachung unseres Alltags zusammenhängt
- Zu sämtlichen Beiträgen des Post-Pandemic-Planets
23. Dezember 2021, West Cork, Irland
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Wie der Fall Assange mit der Überwachung unseres Alltags zusammenhängt
(Moritz Müller, Installateur, Möbelpacker und Journalist mit Schwerpunkt Pressefreiheit und Wikileaks, Irland*)
Erneut muss Julian Assange einen Rückschlag hinnehmen: Das Londoner High Court kippte am vergangenen Freitag die Entscheidung des Bezirksgerichts Westminster Magistrates Court, ihn aus gesundheitlichen Gründen und wegen wahrscheinlich repressiver Haftbedingungen nicht in die USA auszuliefern. Nun liegt der Fall wieder beim Bezirksgericht, das den Auslieferungsentscheid an die britische Innenministerin Priti Patel zur Unterschrift weiterleiten soll. Die Verteidigung von Julian Assange hat angekündigt in Berufung zu gehen.
Assange und Wikileaks waren 2006 angetreten, um digitales Licht ins Dunkel von Staats- und Industriegeheimnissen zu bringen. Sie veröffentlichten hunderttausende von Originaldokumenten, die auf Korruption, Kriegsverbrechen und den Tod von zehntausenden Zivilisten in den von den USA und dem Vereinigten Königreich angezettelten Kriegen in Afghanistan und dem Irak hinwiesen.
Sehr schnell begriffen die Hüter dieser tödlichen Geheimnisse, worum es ging und das US-Verteidigungsministerium formulierte umgehend eine Strategie, um dieser Transparenzplattform und deren Unterstützern den Boden zu entziehen. Deshalb wird Julian Assange seit 2010 von seinen Gegnern gnadenlos verfolgt. Er liess sich dadurch jedoch nicht einschüchtern – zumindest solange man ihn noch hören konnte. So sagte er zum Beispiel in „Hacking Justice“, einem Film über ihn und Wikileaks: „Ich habe oft gesagt: Transparenz für die Mächtigen, Privatsphäre für die Machtlosen.“
Derweil sitzt Julian Assange seit zweieinhalb Jahren in einer Zelle im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. In Wirklichkeit sind es mehrere Zellen, denn der inzwischen 50-Jährige ist bereits mehrmals verlegt worden. Während zwei Verhandlungstagen im Februar 2020 wurde er beispielsweise in fünf verschiedenen Zellen festgehalten.
Diese Methoden, um von der eigenen Unfähigkeit abzulenken, wurden von den britischen Strafverfolgungsbehörden schon früher angewendet, etwa im Falle der Guildford Four. Dabei hatten die desorganisierten aber harmlosen jungen Menschen mit den ihnen 1974 zur Last gelegten Bombenanschlägen auf zwei Pubs im südöstlichen England nicht das Geringste zu tun. Sie befanden sich lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Und die britischen Behörden, die damals während eines Höhepunkts der IRA-Anschläge auf britischem Festland unter enormem Erfolgsdruck standen, benutzten die Guildford Four als Sündenböcke, aus denen falsche Geständnisse herausgepresst werden konnten. Und obwohl die Verantwortlichen von deren Unschuld gewusst haben dürften, wurden die vier zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
Damals wie heute ging es um Abschreckung und Hilflosigkeit. Wenn vier Unschuldige trotz Protesten von Öffentlichkeit, Medien und Politikern 15 Jahre im Gefängnis sitzen, ohne dass sich die Behörden zu Zugeständnissen erweichen lassen, dann wirkt das abschreckend auf Menschen, die sich auf legale Art und Weise mit den sie unterdrückenden Strukturen anlegen möchten. Und das betrifft uns letztlich alle. Denn Julian Assanges Gefangenschaft steht symbolisch dafür, worauf wir als Individuen und als Gesellschaft(en) derzeit zusteuern.
Während wir BürgerInnen im Zuge der Digitalisierung immer gläserner werden, agieren Konzerne und Regierungen mit zunehmender Intransparenz. So sind wir während den vergangenen zwei Jahren immer wieder aufgefordert worden, uns an immer mehr Orten elektronisch auszuweisen und auf unseren Handys Kontaktverfolgungsapps zu installieren. Gleichzeitig kann oder will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen keine Auskunft darüber geben, ob es mit dem Impfstofflieferanten Pfizer/Biontech geheime Absprachen gegeben hat, die per SMS stattgefunden haben sollen.
Offenbar sind Archivierungen von SMS oder Messenger-Diensten wie WhatsApp oder Signal gar nicht vorgesehen, wie eine Recherche von netzpolitik.org zeigt. Als Antwort auf eine Beschwerde heisst es lapidar: „Solche Nachrichten seien ‚von ihrer Natur her kurzlebig‘ und würden daher weder in der formellen Entscheidungsfindung zum Einsatz kommen, noch produzierten sie verbindliche Zusagen der Institution. Daher seien bislang noch nie SMS oder Messenger-Nachrichten im Archivsystem der Kommission abgelegt worden. Auch fehle es an einem technischen System, um das leicht tun zu können.“
Während also die Handys von uns allen grossflächig überwacht werden hält es die EU-Kommission nicht für nötig, dienstliche Kurznachrichten ihrer Mitglieder und Angestellten zu archivieren. Ja es existieren nicht einmal die technischen Voraussetzungen! Angesichts der heutigen IT-Möglichkeiten klingt das nach einer bequemen Ausrede.
Der bereits existierende Graben zwischen „gläsernem Bürger“ und institutioneller Intransparenz hat sich seit Auftauchen der Corona-Politik jedenfalls rasant vergrössert. So wurden beispielsweise zu Beginn der Pandemie chinesische Kontaktverfolgungsapps von den Medien und Politikern der „freien Welt“ belächelt und beargwöhnt – um sie wenige Wochen später bei uns mit grossem Brimborium ebenfalls einzuführen. Ähnlich verhält es sich mit der inzwischen ernsthaft diskutierten allgemeinen Impfpflicht gegen Covid-19, die vor nicht allzu langer Zeit noch von denselben Personen vehement abgelehnt wurde.
Die Corona-Maßnahmen-Politik wird mittlerweile in vielen Ländern per Dekret gemacht – und/oder in verängstigten Parlamenten als alternativlos durchgewunken. Wer dort oder in der Öffentlichkeit Fragen stellt oder kleinste Zweifel äussert, wird als Rechtsextremer oder Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt. Dabei wird die Richtung oftmals von Gremien vorgegeben, die sich aus nicht gewählten ExpertInnen, ForscherInnen und PolitikerInnen zusammensetzen. Die Universitäten aus denen viele dieser Experten stammen, sind heute mangels öffentlicher Förderung, auf Gelder aus privater Hand angewiesen. Auch das Robert-Koch-Institut erhält Drittmittel. Und es überrascht nicht, dass Verflechtungen zur (Pharma)-Industrie Teil des Ganzen sind. Auch diesbezüglich mangelt es oft an Transparenz. Hinzu kommt, dass an Schulen und Hochschulen hauptsächlich Software großer multinationaler Konzerne genutzt wird, obwohl es auch andere Systeme gibt, bei denen die BenutzerInnen verstärkt im Besitz der eigenen Daten bleiben.
„Wenn Bargeld als Alternative eines Tages nicht mehr existiert, können die, die das Netzwerk,
oder Teile davon kontrollieren, es gegebenenfalls auch einfach ausschalten, und einzelne Beteiligte aus der Gemeinschaft aussperren – und damit vom Leben an sich.“
Leider sind wir mitverantwortlich für die Erosion unserer persönlichen Freiheiten und der zunehmenden Kontrolle, die jederzeit über uns möglich ist. Dadurch, dass die meisten Menschen ständig ein Handy mit sich tragen, das sich in vielen Fällen gar nicht mehr wirklich ausschalten lässt, weil die Batterie fix verbaut ist, lässt sich ihr Standort quasi ununterbrochen erheben. Wir kommunizieren digital, was sich einfach speichern und automatisch lesen lässt. Wir kaufen jeden Kaffee und jedes Bierchen mit der Kreditkarte, oft aus Bequemlichkeit. Dabei hinterlassen wir Spuren in Bezug auf unsere Verhaltensweisen – Spuren, die es beim Bargeld weniger gibt.
Im Moment wird Bargeld noch von staatlichen Institutionen ausgegeben, und der Geldfluss zusammen mit privaten Banken organisiert und verwaltet. So wie das bargeldlose Zahlen im Zuge der „Hygienemassnahmen“ derzeit propagiert wird, lässt sich allerdings absehen, dass der elektronische Zahlungsverkehr dereinst nur noch von privaten Firmen organisiert werden soll, die uns BürgerInnen gegenüber nicht wirklich rechenschaftspflichtig sind. Bereits heute finde ich es schwierig bei meiner Bank eine Person ans Telefon zu bekommen, von einem persönlichen Gespräch ganz zu schweigen. Bei meiner Bank scheinen die physisch anwesenden MitarbeiterInnen nur noch dazu da zu sein, den Kunden für die Bank lukrative Produkte zu verkaufen.
Anders läuft es beim elektronischen Zahlungsverkehrs, also auch bei den sogenannten Kryptowährungen: Der Kunde ist in erster Linie auf den Anschluss an das eine oder andere elektronische Netzwerk angewiesen. Sollten diese Netzwerke allerdings einmal ausfallen, ist keine monetäre Kommunikation mehr möglich. Wenn Bargeld als Alternative eines Tages nicht mehr existiert, können die, die das Netzwerk, oder Teile davon kontrollieren, es gegebenenfalls auch einfach ausschalten, und einzelne Beteiligte aus der Gemeinschaft aussperren – und damit vom Leben an sich. Da wird die Luft dünn für Dissidenten, Andersdenkende und Unerwünschte.
Ein Vorgeschmack, auf das was uns erwarten könnte, lässt sich einmal mehr vom Fall Assange ablesen. So wurden Ende 2010 mehrere Bankkonten von ihm und Wikileaks eingefroren. Dasselbe geschah vor einigen Monaten auch mit den Credit-Suisse-Konten des chinesischen Künstlers und Dissidenten Ai Weiwei. Eine bequeme Form der Mächtigen, sich ihrer KritikerInnen zu entledigen.
„Es ist offensichtlich, dass sich Julian Assange im Vergleich zu den meisten von uns in einer extremen Lage. Doch wenn wir keinen Widerstand leisten – sowohl im Großen wie im Kleinen –
werden wir unaufhaltsam in dieselbe Richtung treiben: jene der Unfreiheit.“
Warum wir in diese Richtung taumeln oder sogar begeistert mitmachen, ist schwer nachvollziehbar. Sicherlich spielt die Bequemlichkeit auf dem vorgegebenen Weg zu bleiben eine Rolle. Hinzu kommt die Propaganda der vermeintlichen Sicherheit, für die die BürgerInnen hier und da eben auch mal „kleine Freiheiten“ aufgeben müssen.
Noch gibt es die Möglichkeit, sich dieser Entwicklung punktuell zu entziehen. Darin besteht wohl unsere letzte Chance, bevor die totale Kontrolle durch Regierungen und die mit ihnen verbundenen Konzerne eintritt. Im Folgenden eine unvollständige Liste an Tipps:
- Handy Zuhause lassen, ausschalten und möglicherweise in einer abgeschirmten Tasche aufbewahren
- Dateien und Dokumente auf dem eigenen Computer bearbeiten und kommentieren, ohne sie in eine Cloud hochzuladen
- Wenn immer möglich mit Bargeld bezahlen, solange man wegen fehlendem Zertifikat nicht ausgesperrt wird oder die betreffenden Geschäfte, Kneipen oder Restaurants maßnahmenbedingt noch nicht Pleite gegangen sind
- Nachbarn oder Freunde besuchen und mit ihnen ohne elektronische und überwachbare Hilfsmittel kommunizieren, solange keine Kontaktbeschränkungen erlassen und durchgesetzt werden
Wie sich die Verlagerung unserer Kommunikation in den digitalen Bereich, in dem sich weder fühlen noch riechen lässt und in dem man nur begrenzt sehen und hören kann, auf uns auswirkt, wird sich wohl erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zeigen. Auch auf die Frage, wie sich die analoge Kommunikation entwickelt, wenn unsere Mimik hinter Masken verborgen bleibt, wird es wohl erst in ein paar Jahren Antworten geben. Kinder und Jugendliche, die Kommunikation in all ihren Formen gerade erst am Erlernen sind, sind von den Masken besonders betroffen – und dies sollte unbedingt be- und überdacht werden. Wenn wir gezwungen werden, unsere Kinder zu maskieren, ist meines Erachtens eine Grenze überschritten, ab der Widerstand zwingend notwendig wird.
Doch zurück zu Julian Assange und seiner Mission, die Welt über Risiken, Gefahren und auch Chancen des Cyberspace aufzuklären: Meines Erachtens spiegelt sich seine Hilflosigkeit heute in der individuellen und gesellschaftlichen Hilflosigkeit wider. Es ist offensichtlich, dass sich Julian Assange im Vergleich zu den meisten von uns in einer extremen Lage befindet. Doch wenn wir keinen Widerstand leisten – sowohl im Großen wie im Kleinen – werden wir unaufhaltsam in dieselbe Richtung treiben: jene der Unfreiheit. Deshalb müssen wir unbedingt miteinander im direkten Gespräch bleiben: am Küchentisch, bei der Arbeit, im Park.
Und auch sollten wir eigene Alltagserfahrungen mit dem abgleichen, was wir in den Medien hören und sehen. Denn oft lohnt es sich, den Fernseher und das Radio auszuschalten, etwa wenn einem die Nachrichten zu manisch und repetitiv erscheinen. Wenn wir nicht aufpassen, besteht die Gefahr, dass der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird. Sollte es uns gelingen, Julian Assange durch öffentlichen Druck aus dem Gefängnis zu befreien, wäre dies ein kraftvolles Symbol dafür, dass wir vielleicht doch nicht gänzlich machtlos sind.
*Moritz Müller ist ein Münchner Kindl der 1960er Jahre. Aufgewachsen in Bonn am Rhein in Fühl- und Sichtweite von Politik. Teilnehmer der großen Friedensdemos in Bonn, und zur gleichen Zeit erste Computerversuche mit einem Sinclair ZX81. Zivildienst in München, dann dort in einer Töpferwerkstatt „beinahe unentbehrlich“ geworden. Ausserdem Installateur, Möbelpacker, Anstreicher und generell Mitglied der „letzten Reihe“ beim Münchner StudentenServis des Arbeitsamts. Ansonsten nie richtig im akademischen Betrieb heimisch geworden. Seit Mitte der 1980er Jahre aktiver Teilnehmer an der irischen Pub-Culture, wo der Pub als Job-Börse, Treffpunkt und Gesangsverein funkionier(te). Mittlerweile über die Hälfte seines Lebens ständiger Bewohner der grünen Insel und dort als „General Handyman“ tätig, inklusive Ausflügen in den Gartenbau und verschiedene Wassersportarten. Co-Produzent von „Worst Case Scenario“ und Geburtshelfer bei „Happy Hour“. Seit Ende 2017 journalistisch tätig, unter anderem für die NachDenkSeiten, wo sich zahlreiche Artikel zum Thema Pressefreiheit, Wikileaks und irische Geschichte finden. Seit 2019 vielfache Londonreisen in Sachen „Freiheit für Julian Assange“.
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20. Dezember 2021, Wien, Österreich
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Über die innere Besinnung zur neuen Weltarchitektur
(Johannes M. Waldmüller ist Entwicklungsanthropologe, Vater sowie Umwelt- und Menschenrechtsaktivist, Österreich*)
Es wird keine post-pandemische Welt mehr geben. Diese schmerzhafte Einsicht sollte man angesichts der weltweiten ökologischen, gesellschaftlichen und institutionellen, ja, zivilisatorischen Krise schon gewonnen haben. So schmerzhaft es mir als Jungvater auch fällt dies anzuerkennen. Was ich damit meine ist, dass es weder ein „Zurück“ zu einer Zeit vor der Pandemie geben wird, noch eine „neue Normalität“ und schon gar nicht ein Ende weiterer zoonotischer Krankheiten, also der Übertragung tierischer Erreger auf den Menschen angesichts des immer weiteren Vordringens menschlicher Aktivitäten in (mehr oder minder) unberührte Naturlebensräume. Es gibt zwar (hoffentlich) wieder ein Leben ohne Maske, jedoch kein Zurück. Wir haben sämtliche Kipppunkte bereits überschritten. Der Klima-, der Weltkollaps spielen sich nun unerbittlich vor uns ab und die aktuelle Pandemie ist nur der Anfang davon.
Diese klaren Worte sollen allerdings nicht primär als Bekenntnis zu herzzerreißenden Dystopien verstanden werden, sondern viel mehr die Chance für echte Veränderungen verdeutlichen. Also für subjektives und gemeinschaftliches, aber auch spirituelles Wachstum, sowie institutionelle und politische Strukturveränderungen im großen Stil.
Jede Krise macht bekanntlich Machtverhältnisse gnadenlos sichtbar und bedeutet daher eine Möglichkeit zu Veränderung – und diese gilt es trotz allem gerade jetzt zu ergreifen: “Wir haben keine Chance – nutzen wir sie“.
Das schreibe ich als jemand, der zunächst mal professionell mit Krisen zu tun hat. Als Akademiker im Bereich Katastrophenprävention und Entwicklung, aber dann auch als ein Weltwanderer, jemand, der im globalen Norden aufwuchs und dann auszog in die weite Welt, der zwölf Jahre in Lateinamerika, dem Mittleren Osten und auch regelmäßig in Afrika gearbeitet hat. Mitte 2021 ging ich wieder zurück in meine Heimat, nach Österreich, nur um dort (fast) nichts wiederzuerkennen: Gesellschaft und Politik unter dem Eindruck der entfesselten Globalisierung und der Einsparungen im Bildungsbereich seit den 90er Jahren weitgehend polarisiert und radikalisiert.
So marschieren hier seit Wochen jeden Samstag zwischen 40.000 und 100.000 Neonazis, Massnahmenkritiker- und EsoterikerInnen, fundamentalistische „Christen“ und tatsächlich besorgte MitbürgerInnen durch die komplett lahmgelegte Wiener Innenstadt, attackieren Ärzte, Spitäler und Journalisten. Sie fordern, mitunter zu Recht, allerdings aus verqueren Motiven, ein Umdenken der Pandemiepolitik, bis hin zum offenen Sturz der Regierung und der Abschaffung der Demokratie. Blendend verdient daran der Besitzer des Red Bulliversums und international erfolgreicher Sportfilialien Dietrich Mateschitz, der mit seinem Fernsehsender Servus TV regelmässig Impfgegnern, Fake News und Attacken auf Solidarität, Zusammenhalt und Öffentlichkeit Bühne bietet.
Vor wenigen Monaten noch, als Mitte 2020 im ecuadorianischen Guayaquil die Menschen auf den Strassen verstarben, in Kartons abtransportiert wurden, und man händeringend nach Zugang zu den Impfungen auf internationalen Märkten Ausschau hielt, während im Westen bereits 1x und 2x geimpft wurde, wären diese DemonstrantInnen der Gegenwart wohl instant gelyncht worden.
Und die weltweite Ungleichheit beim Zugang zu Impfstoffen und Produktion – samt weiterhin bestehender, milliardenschwerer Patente auf mit öffentlichen Geldern finanzierten Forschungsspin-offs (die zumindest AstraZeneca und Moderna darstellen) – wiegt nach wie vor schwer. Die „Freiheit“, die besorgte WutbürgerInnen des Nordens meinen, ist eine sehr enge und wird auch immer enger. Für die Abschaffung der Impfpatente, für den Schutz von MigrantInnen im Mittelmeer oder Belarus/Polen, oder für – auch nach zwei Jahren nicht vorhandene – klare Katastrophen- und Pandemiegesetze auf europäischer und nationaler Ebene, einschließlich transparenter Spielregeln für Staatshilfen und Ausnahmezustände wird gar nicht erst protestiert. Auch der mediale Horizont hat sich auf den Alltag und das allgemeine Überleben zunehmend verengt.
Ich habe in den 2000ern in Europa gelebt, das von Finanzkrisen, neoliberaler Austeritätspolitik und den Auswirkungen des absurd-polarisierenden „War on Terror“ geprägt wurde. Gleichzeitig standen Lateinamerikas (mehr oder minder) progressive Regierungen mit ihren neukeynesianischen Wirtschaftspolitiken für sozialen Umbau und menschliche Entwicklung, und sorgten für ungläubiges Staunen in Europa.
Heute ist es allerdings nun scheinbar genau umgekehrt: Während Lateinamerika in rechtem Populismus, postliberaler Austeritätspolitik und Krieg gegen die eigenen Bevölkerungen versinkt (siehe Protestwellen 2019), dramatische Armutsspiralen inklusive, wurde in Europa der Staat als Investitionsmotor und Schutz der eigenen Bevölkerungen wiederentdeckt. Nie gesehene Schutzprogramme helfen Unternehmen und Familien durch die Krise, die öffentliche Verschuldungen gehen durch die Decke und der staatliche Ansteckungsschutz nimmt teilweise geradezu absurde Ausmaße an. Dies wird spürbar, wenn der Besuch von Restaurants, Bibliotheken oder Museen selbst nicht mehr bei reduzierten Besucherzahlen möglich sein darf, oder gar wie in Österreich unter Strafandrohungen eine allgemeine Impfpflicht ab 2022 eingeführt werden soll, die sich gar nicht mehr an besonders vulnerablen Gruppen orientiert. Dafür bleiben in den Alpen Skiressorts offen, denn Wirtschaft geht vor. Solcherart katastrophale Katastrophenpolitik ist nicht vermittelbar, kann nur auf Widerstand stossen.
Es wird sich jedoch erst noch zeigen, ob eine Impfpflicht für alle tatsächlich mit der europäischen Grundrechtscharta vereinbar ist. Gleichzeitig steigt die globale Abhängigkeit von einer Handvoll pharmazeutischer Unternehmen. Dabei steht die stark ansteigende öffentliche Verschuldung direkt proportional zum Umsatz derselben beziehungsweise dem Ausbleiben einer tatsächlich wirkmächtigen Behandlung gegen Sars-CoV-19. Als Resultat spukt die Angst vor Masseninflation und oftmals bereits gefühltem Wirtschaftszusammenbruch durch die Strassen.
Anders gesagt: Wir werden an echten, tiefgreifenden und grossflächigen Reformen nicht herumkommen, da auch die bisherige Orthodoxie der Ökonomie am Ende ihres Lateins angelangt ist. Damit meine ich nicht das „Great Reset“-Gewäsch eines Klaus Schwab und seines WEF. Und ebenfalls nicht nur neues Big-Greenwashing, wie es die neue deutsche Regierung vorhat und schon gar nicht den „Green New Deal“ eines Joe Biden.
„Auch müssen die WutbürgerInnen auf den Strassen mittels thematischer Bürgerräte
partizipativ mit ins Boot geholt werden. Auf EU-Ebene braucht es ein umfassendes BürgerInnenparlament, wie es bereits 2007-2009 erfolgreich erprobt und dann
abgewürgt wurde, da man verbindliche Zusagen verlangt hatte.“
Was ich meine ist ein Komplettumbau unserer internationalen Finanz- und Wirtschaftsarchitektur und mithin des globalen Produktions-, Handels-, und Konsumsystems. Eine Art neues Bretton Woods, wie gegen Ende des 2. Weltkrieges, allerdings mit dem Ziel global geänderter Spielregeln. Wo Wachstum um jeden Preis, wo Entsolidarisierung und Ausbeutung der Mitmenschen, nicht mehr die zentralen Werte darstellen, wie es mit den politisch bewusst getroffenen Entscheidungen hin zur entfesselten Wirtschaftsglobalisierung in den 1990ern der Fall war.
Was ich mir vorstelle und wofür ich nun mehr denn je arbeite, ist eine Welt, die umfassende menschliche Entwicklung, inklusive ihrer spirituellen und kulturellen Dimensionen, in den Mittelpunkt stellt, und zwar gemeinsam mit ökologischer und historischer Wiedergutmachung zwischen Erdteilen und Völkern. Wo etwa Unternehmen, die dazu ihren konkreten und nachweislichen Beitrag leisten, Steuererleichterungen, erhöhte korporative CO₂-Verbrauchskonten und Subventionen erhalten, und jene, die es gerade nicht tun (habe ich Red Bull schon erwähnt?) dafür umso mehr zahlen werden.
Wo es aber auch nicht nur um die Bepreisung der CO₂-Ausstösse geht, sondern um eine tatsächliche Umgestaltung: Banken etwa müssen radikal demokratisiert werden, vom Gewinnziel weg- und zu Gemeinzielen hingeführt werden; das Spekulationsgeschäft massiv eingeschränkt und die Gewinnsteuern der immer reicher werdenden und meist CO₂ emittierenden Oberschicht massiv angehoben werden (die Konzernsteuern von 15 % stehen Pate für die Umsetzbarkeit). Auch müssen die WutbürgerInnen auf den Strassen mittels thematischer Bürgerräte partizipativ mit ins Boot geholt werden. Auf EU-Ebene braucht es ein umfassendes BürgerInnenparlament, wie es bereits 2007-2009 erfolgreich erprobt und dann abgewürgt wurde, da man verbindliche Zusagen verlangt hatte.
Auf internationaler Ebene muss der kompetitive und chauvinistische Klassiker der nationalistischen und realistischen Machtperspektive überwunden werden, dazu gehört insbesondere der radikale Umbau der militärisch-industriellen Komplexe hin zu weltweiten Katastropheneingreiftruppen angesichts der steigenden Wetterextreme. Das chinesische Konzept des „tianxia“ etwa wäre ein interessanter Ansatz für westliche Weltregionen, die heute von Visionslosigkeit geprägt sind. Also die Idee eines gemeinsam kooperativen Rahmens innerhalb flexibler Netzwerke, die sich von kleinsten lokalen Einheiten zu kosmopolitischer Zusammenarbeit jenseits der zu überkommenden Nationalstaatlichkeit (weder Viren noch Katastrophen kennen Grenzen) hinfort setzen. Es ist kein Zufall, dass in einer post-multilateralen Welt gerade die Diplomatie und Kooperation zwischen Städten am Boomen ist – teilweise auch gerade gegen die Nationalregierungen, wie im Falle New Yorks und der Trump-Regierung in den USA.
„Dazu gehört das rasche Abdrehen von antisozialen Medien
und anderer manipulativer Meinungsblasen, aber dazu gehört auch tatsächlich
und selbstverzeihend an uns selbst zu arbeiten. Unsere individuellen und kollektiven Traumata
zu überwinden, uns in neuer Offenheit und Hingabe zur Natur zu begegnen.“
Der militärisch-industrielle Komplex ist der weltgrösste CO₂-Verursacher überhaupt. Und dennoch liest man nur wenig darüber, was nicht etwa an der bösen Weltverschwörung liegt, sondern daran, dass die gesamte Welt als Konsequenz der Dollar-Leitwährung quasi stillschweigend akzeptiert, dass die USA im Gegenzug für relative Stabilität und Wirtschaftswachstum die Rolle der „Weltpolizei“ übernommen haben, während man selbst dorthin exportiert oder investiert. Diese globale Schieflage macht nun allerdings keinen Sinn mehr. Die USA als Welthegemonie haben spätestens seit Trump ausgedient, insbesondere aber seit der Pandemie und ihrer Untätigkeit hinsichtlich Notwendigkeiten des Klimawandels. Dies muss und wird sich also ändern.
Der zweitgrösste CO₂-Ausstoss nach dem Energiesektor (worunter der genannte Komplex fällt) erfolgt übrigens im industriellen Landwirtschaftssektor – und genau den gilt es so rasch wie möglich umzubauen, ja sogar in weiten Teilen abzuschaffen. Tatsächlich sind restaurative, agroökologische und arbeitsintensive Formen der Landwirtschaft ungleich produktiver, resilienter, letztlich billiger, da keine Pestizide und Dünger notwendig sind, deren Herstellung mit enormen Externalitäten verbunden ist. Dazu schaffen sie noch Arbeit, die uns auf sensorieller und spirtueller Ebene dem Acker und der Erde mit all ihrer all-verbindenden Zyklen zwischen Werden und Vergehen näherbringen.
Die aktuelle Pandemie führt uns vor Augen, was tatsächlich relevant ist für unser Dasein und ich bemerke ein Umdenken, dazu gehören auch Teile jener besorgten WutbürgerInnen, die für umfassende Änderungen einstehen, sich aber noch von rechtspopulistischen Rattenfängern vereinnahmen lassen.
Denn zu guter Letzt – oder vielleicht in Wahrheit zu Beginn – steht eine hochgradig individuelle, subjektive Aufgabe an. Es geht dabei tatsächlich um eine Art Erweckung, um eine Selbstbefreiung, auch um eine Selbstermächtigung. Aber eine, die auf globaler Ebene notwendig ist, dringend notwendig ist. Dazu gehört das rasche Abdrehen von antisozialen Medien und anderer manipulativer Meinungsblasen, aber dazu gehört auch tatsächlich und selbstverzeihend an uns selbst zu arbeiten. Unsere individuellen und kollektiven Traumata zu überwinden, uns in neuer Offenheit und Hingabe zur Natur zu begegnen. Zuzuhören. Uns Zeit zu nehmen. Voneinander zu lernen. Innere Stärke und Frieden zu gewinnen, aber auch eine Art transzendentale Gelassenheit angesichts der Weltlage. Breite Reformen des Schulstoffes, hin zu regelmässigen Ethikkursen, Atemübungen, Tanz, Meditation, nicht-pathologisierende humanistische Ansätze der Psychologie und transnationaler Friedensarbeit könnten dabei helfen, sofern sie nicht bloss als weitere Identitätsmarker konsumiert, sondern tatsächlich kultiviert werden. Es geht darum, gerade in verstärkten Krisenzeiten seelisch und mental gesund zu bleiben und sich die Basics sozialer Kompetenz und diplomatischer Haltung wieder anzueignen und zu vertiefen.
Dieser Prozess ist letztlich sowieso unaufhaltsam. Es liegt an uns, uns JETZT zu entscheiden, mit Haltung unterzugehen oder wenigstens zu versuchen, das Steuer noch ein Stück weit herumzureissen. Oder aber als panischer Haufen aufgeschreckter, verängstigter Menschen sich wie Lemminge in den Abgrund zu werfen.
Und ich wünsche mir, dass 100.000ende für die Umsetzung solcher und ähnlicher tiefgreifender Reformen auf allen Ebenen auf die Strassen gehen, mit dem Mut zu wissen, dass es kein Zurück geben wird und auch nicht geben soll.
*Johannes M. Waldmüller (1982, Österreich) ist Entwicklungsanthropologe (PhD 2014 in Genf), Umwelt- und Menschenrechtsaktivist in den Anden und Südostafrika und forscht dort seit einigen Jahren zu Katastrophenprävention und Wiederaufbau im Zuge des Klimawandels. Zwischen 2016 und Anfang 2021 hielt er eine Forschungsprofessur für internationale Politik an der Universidad de Las Américas, Quito, sowie Gastprofessuren an FLACSO Ecuador und Argentinien, an der Universität Toulouse und an der polytechnischen Universität Ecuador. Seit September 2021 ist Gastprofessor der Universität Wien und Teil des dortigen Forschungsverbundes Lateinamerika.
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16. Dezember 2021, Quito, Ecuador
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Zuneigung wird zu einem Grundbedürfnis
(Martamaría Lasso ist Literatur- und Kommunikationswissenschaftlerin und alleinerziehende Mutter zweier Kinder, Ecuador*)
Seit März 2020 erleidet die moderne Welt, die sich ohnehin inmitten der Apokalypse des Neoliberalismus befindet, einen neuen Schlag, der in jedem Winkel des Planeten zu spüren ist. Die Pandemie verstärkt sowohl das Versagen des sozioökonomischen Systems als auch die Fehlentwicklungen in der Beziehung des Menschen zur Natur und zu den Tieren, und stellt die bis anhin geführte Lebensweise in Frage. Sie zwingt die grosse Mehrheit der Menschen in eine Enge, die das familiäre und öffentliche Leben verändert und das Sozialgefüge umpflügt – und zwar mit Folgen, die nach wie vor nicht absehbar sind.
Der Privilegierte, der es sich leisten kann zu Hause zu bleiben, wird seither gezwungen, sich in den einzig geschützten Raum zurückzuziehen: seine Träume. Der öffentliche Raum reduziert sich auf das Wohnzimmer. Das Schlaf- sowie Esszimmer sind keine privaten Räume mehr für Freizeit und tägliche Rituale. Sie werden kurzerhand zu Büros und Klassenzimmern, in denen das produktive Leben trotz Pandemie über den Bildschirm weiterläuft. Mit der allgegenwärtigen Furcht vor der Krankheit nähert der kollektive Tod sich wieder einmal der menschlichen Erfahrung. Millionen Menschen werden krank, Tausende sterben. Und die Träume intensivieren sich. Dort soll nun also all das stattfinden, was sich im materiellen Leben, im Körper, nicht mehr leben lässt? Ist das letztlich der Ort, an dem wir uns doch noch emanzipieren?
Masken werden zur Pflicht und die Hälfte der Gesichter verschwindet. Das Leben wird prekärer (für viele bis hin zur Verelendung) und die Überwachung der BürgerInnen nimmt zu. Die Möglichkeiten einer Begegnung oder die Aussicht darauf, dass etwas Neues die Routine durchbrechen könnte, rücken in die Ferne. Fast alles wird eingeschränkt, ausser natürlich der Zugang zum Bildschirm. Klammerbemerkung: Weltweit müssen tausende von Kindern und Jugendlichen ihre Ausbildung abbrechen, weil es sowohl wirtschaftlich als auch technisch schwierig ist, sich täglich acht Stunden für den virtuellen Unterricht einzuklinken. Hier in Ecuador wurden zeitweise zwar die Parkanlagen geschlossen, aber Banken und Einkaufszentren blieben geöffnet. Die BürgerInnen entwickeln sich zu Polizisten der anderen, die Überwachungsgesellschaft installiert sich mit zusätzlicher Gewalt. Die ohnehin schon eingeschränkten Freiheiten der Menschen werden verstärkt auf die Möglichkeit des Konsums reduziert.
Was hingegen nie aufhört zu brummen, sind die Maschinen, die die Wälder zerstören. Und auch die Tiere in den Schlachthöfen haben keine Ruhepause. Die Supermärkte sind nicht in der Lage, die Menge an Fleisch zu liefern, die die VerbraucherInnen in ihren Gefriertruhen aufbewahren wollen, falls die Apokalypse mit der Wucht von Science-Fiction-Filmen ausbrechen sollte. Die Mächtigen haben also nicht damit aufgehört, Strategien zu entwickeln, um sich Leben und Tod zu eigen zu machen.
Es ist schon merkwürdig, dass wir Menschen in der Lage sind, uns anzupassen, indem wir unsere Sauerstoffzufuhr und unsere Möglichkeiten zur Geselligkeit reduzieren, uns aber nicht vorstellen können, wie eine Welt ausserhalb des Kapitalismus aussehen könnte.
Die Welt war bereits vor der Pandemie in die virtuelle Phase des Kapitals getreten. Durch den virtuellen Markt an Informationen, auf dem Daten an Stelle von Objekten und Erfahrungen treten, begannen materielle Dinge an Wert zu verlieren. „Wahrheiten“ werden konstruiert und verbreitet, unabhängig davon, wie weit sie von der Realität entfernt liegen. So hat die Pandemie die Virtualisierung unserer Leben auf eine neue Stufe katapultiert. Heute scheint die Realität nicht viel mehr zu sein als das, was die sozialen Netzwerke projizieren. Und die politische Klasse ist sich dessen bewusst.
Aus meiner privilegierten Situation, die oft mit einer Portion Naivität einhergeht, erlebte ich diese erste Verlangsamung des Alltags mit einer Mischung aus Freude und neuer Hoffnung auf einen möglichen sozialen Wandel. Eine Art Neuordnung der Projekte und Prioritäten, die, so dachte ich damals, vielleicht planetarisch werden könnte. Gleichzeitig verspürte ich eine Art Schuldgefühl in Bezug auf das, was kommen könnte.
Meine Kinder und ich kochten gemeinsam, backten Brot, pflegten den Garten, tanzten, pflanzten Bäume, räumten vergessene Schubladen aus und sprachen stundenlang über Dinge, die wir aufgeschoben hatten. Wir lebten dieses relative Wohlergehen trotz des Schocks und der Angst vor der Seuche, die da lauerte und immer noch lauert. Denn während wir bequem von unserem Wohnzimmer aus und mit einer vollen Speisekammer im Rücken unsere Aufgaben virtuell verrichteten, wütete in Guayaquil, der grössten Küstenstadt Ecuadors, sowie in vielen der ärmsten Gegenden des Landes das Virus. Und all dies vor den Augen eines trägen und gleichgültigen Staates, dessen Eliten, charakterisiert durch ihre moralische Überlegenheit, all jene verurteilten, die ihr Zuhause verliessen.
Nun, da fast zwei Jahre seit dem Ausbruch der Pandemie vergangen sind, und wir mitten in einer weltweiten Krise und der damit verbundenen Verschärfung der Armut vieler Menschen stecken, stelle ich fest, dass ich dieser „neuen Normalität“ mit einem gewissen Zynismus begegne. Denn gerade gut ein Jahr nach dem Landesstreik im Oktober 2019, der sich durch die grosse Solidarität zwischen der Stadt und dem Land ausgezeichnet hatte, gewann bei den Präsidentschaftswahlen der Kandidat der rechtskonservativen Partei. Beim Gewählten handelt sich um einen ehemaligen Banker und milliardenschweren Geschäftsmann, der sich seit über zehn Jahren um die Präsidentschaft bemühte und der gleichzeitig mein Onkel ist: der jüngste der elf Brüder Lasso Mendoza. Als Resultat seiner Arbeit wurde Guillermo Lasso zum Patriarchen, zum Reichsten und zu dem, der trotz seiner bescheidenen Herkunft ein Imperium aufbauen konnte und dem heute – vielleicht mehr denn je – fast die gesamte Familie huldigt.
Mein Vater Xavier Lasso war schon immer das schwarze Schaf: er, der Belesene, der Kommunist, der Atheist, der Strenge, der nicht wusste, wie man zu Geld kommt. Nicht wie seine Brüder und Schwager. Er kam in seinen Zwanzigern von Guayaquil nach Quito und blieb bis heute hier, wo er inzwischen siebzig Jahre alt und als linker Journalist tätig ist (manchmal – das möchte ich erwähnt haben – mit der Unfähigkeit, seine ideologischen Verbündeten zu kritisieren). Seit nunmehr über zehn Jahren befindet er sich in aktiver und öffentlicher Opposition zu seinem Bruder.
„Wir werfen alle mit Kot aus unseren Schützengräben, aber wir organisieren uns nicht politisch.
Das liegt vielleicht daran, dass viele Familien und Freundschaften inzwischen zerbrochen sind.“
Am 2. Oktober 2021 veröffentlichte das „International Consortium of Investigative Journalists“ die Pandora Papers. Darin werden die Finanzgeheimnisse von 35 führenden Politikern der Welt enthüllt, darunter Guillermo Lasso, einer der drei Präsidenten Lateinamerikas, der grosse Vermögen in Steuerparadiesen besitzt.
Seit Lasso an der Macht ist, wurden dank des Anstiegs des Erdöllpreises 8.130 Millionen Dollar für die Begleichung der Auslandsschulden eingespart – ein Rekord. Allerdings hat die Bevölkerung gleichzeitig keinen Zugang zur medizinischen Grundversorgung und wenn doch, dann steht sie vor überfüllten öffentlichen Krankenhäusern. Hinzu kommt die Bevorzugung der Oberschicht. So wurden Steuererhöhungen für die Mittelschicht beschlossen, parallel dazu aber die Abschaffung der Erbschaftssteuer sowie die schrittweise Senkung der Steuer auf Devisenabflüsse.
Zu alledem ist es während der vergangenen Monate seit seinem Amtsantritt zu verschiedenen Gefängnismeutereien gekommen, bei denen über 300 Personen umgebracht wurden. Das jüngste Massaker ereignete sich im November, als der Präsident bei einer Gala das US-Marine-Corps feierte. Nebst vielen anderen Unschuldigen kam damals auch Victor Guaillas Gutama ums Leben, ein Anti-Bergbau-Aktivist aus dem Süden des Landes. Ob jene, die für den Dschungel und sauberes Wasser kämpfen – ähnlich wie unter Präsident Rafael Correa (2007-2017) – inmitten einer Klimakrise weiterhin verfolgt und eingesperrt werden? Bleiben die Gefängnisse angesichts der Apathie der Gesellschaft eine Zermalmungsmaschine für Arme und Aufständische?
Die Rückkehr zu einer rechtskonservativen Regierung ist meines Erachtens weit entfernt vom emanzipatorischen Wandel, den die Realität erfordert. Der alte antipolitische Zweiparteienstreit hat zu einer Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft geführt. Wir werfen alle mit Kot aus unseren Schützengräben, aber wir organisieren uns nicht politisch. Das liegt vielleicht daran, dass viele Familien und Freundschaften inzwischen zerbrochen sind.
Die Rückkehr nach rechts ist eine Art Rückkehr zu kolonialen Idealen – allerdings mit Nuancen, die das allgegenwärtige Gesicht der Macht unsichtbar machen. Die eindeutige Priorisierung der Interessen der Eliten zeigt, dass die Kapitalisierung von Ressourcen nicht ohne Rassifizierung und Diskriminierung missbrauchter Körper möglich ist. Manche nennen es „Arbeitsplätze schaffen“. Dieser Slogan reicht offenbar, um die Ausbeutung zu rechtfertigen: Arbeit als ein Maximalwert. Es spielt keine Rolle, ob ein Arbeitnehmer nach 25 Jahren in den Ruhestand geht und seine Situation dieselbe ist oder gar schlechter, als bei seinem Eintritt in die Arbeitswelt. Das wird nicht hinterfragt.
Der Beruf wird nicht mehr als ein Ort des Wachstums und der Entfaltung des Selbst verstanden. Logisch, dass dies ohnehin nur bei privilegierten Arbeitsplätzen der Fall war, an denen der Einzelne Wissen und Fähigkeiten anhäuft, die Teil seines kulturellen und sozialen Kapitals werden. Für die Mehrheit war Arbeit immer schon lediglich ein Mittel, um das eigene Überleben zu sichern.
Das Schlimmste daran: Die Neo-Sklaverei erfordert keine gewaltsame Durchsetzung mehr. Schliesslich beuten sich die BürgerInnen der digitalen Welt selbst aus. Wir sind Zeugen des “Zeitalters der Errungenschaften”, will heissen: Es geht darum, herauszustechen, im Mittelpunkt zu stehen und um jeden Preis Beifall zu bekommen, ohne auf das Alltägliche zu achten. Jeder geht seinen eigenen Weg, absolut individualisiert und mediatisiert. Es gibt keine Gemeinschaften oder Gewerkschaften mehr, die sich gegen die Unersättlichkeit der Herren der Welt behaupten könnte.
„Es schien, als stünde die Welt an der Schwelle eines tiefgreifenden Wandels. Eine pluralistische Emanzipation, eine Hinwendung des Individuums und seines Liebespotentials zur Gemeinschaft.
Eine erotische und sexuelle Revolte schien sich anzukündigen.“
Die Geschichte der kapitalistischen Moderne beruht auf der Idee der Rasse. Dies ist in Ländern mit einer kolonialen Geschichte noch viel stärker spürbar. Ecuador war und ist immer noch eine Kolonie des Imperiums. Das Imperium hat sich zwar verändert, die Qualität der Kolonie allerdings nicht. Wir dienen als Quelle von natürlichen und menschlichen Ressourcen. Indigene und Mestizen werden nicht als politische Subjekte mit Rechten betrachtet, sondern als Marionetten des herrschenden Tyrannen oder aber als Zeichen eines kriminalisierten Aufstands. Häufig wird davon ausgegangen, dass die Bauern, die angesichts ihrer prekären Lebenssituation auf die Strasse gehen, dies lediglich aufgrund ihres paternalistischen Erbes tun, aus fehlendem Verantwortungsgefühl, aus Faulheit. Diese Sichtweise ist ein Ergebnis der Kolonialgeschichte. Denn die indigene Bevölkerung – oftmals Bauern – wurde von den hacenderos während Jahrhunderten als eigener Besitz betrachtet und die Verantwortung für die Sicherung ihres Lebensunterhalts war „ihrem“ Patron überlassen. Diese Wahrnehmung ignoriert allerdings die Tatsache, dass diejenigen, die mit ihren Händen auf dem Land arbeiten und uns also ernähren, jene sind, die in Wirklichkeit unsere Wirtschaft stützen.
Meiner Meinung nach muss das Engagement für Solidarität und Freundschaft angesichts der dunklen Zeiten noch stärker werden. Wir dürfen die Distanz zu anderen nicht verinnerlichen. Die Umarmung und die gemeinschaftlichen Rituale müssen mit verstärkter Kraft zurückkehren. Das Überleben sollte nicht der futuristische Traum derjenigen sein, die den Mars besiedeln wollen. Der lange Atem der Menschheit auf der Erde müsste aus dem Bewusstsein des Einsseins geschmiedet werden. Und so muss die Idee des Überlebens des Stärkeren neu interpretiert werden. Langlebigkeit wird nicht unbedingt dem Stärksten garantiert, sondern demjenigen, der am meisten kooperiert; demjenigen, der sich für das Gemeinsame einsetzt. Wir sind die Natur, wir sind das Tier und das Leben. Wir sind es der Welt und der Gemeinschaft schuldig. Schliesslich gibt es nur eine Menschheit.
Ich muss zugeben, dass ich mich angesichts der Apathie gegenüber der neuen Normalität und der Verschärfung der neoliberalen Praktiken manchmal nach den Idealen sehne, die in der ersten Quarantäne greifbar waren. Es schien, als stünde die Welt an der Schwelle eines tiefgreifenden Wandels. Eine pluralistische Emanzipation, eine Hinwendung des Individuums und seines Liebespotentials zur Gemeinschaft. Eine erotische und sexuelle Revolte schien sich anzukündigen. Weibliches Vergnügen würde nicht mehr verurteilt, genauso wenig wie jenes der Queers, der Gays und der Transsexuellen. Die Hände würden zum Anfassen dienen und nicht nur in den Dienst der Industrie gestellt werden. Stattdessen würden die Körper und ihre Verschiedenartigkeit gefeiert.
Die Vernunft würde in den Dienst des Lebens gestellt. Flüsse und Meere würden gerettet und Tiere nicht mehr gequält werden. Die Beziehung zu Land und Lebensunterhalt würde geheilt, die Landwirtschaft würde wieder lokal und biologisch werden. Das Heilige würde in die materielle Welt zurückkehren. Wir würden freie und ausdrucksstarke Körper sein. Wir würden die Fülle feiern, indem wir tanzen und die im Mutterleib unterdrückten Schreie rauslassen. Wir würden wieder zum gegenwärtigen Bewusstsein finden, wieder unseren staunenden Blick sowie unseren Tast- und Geruchssinn entdecken. Wir würden uns mit freudiger Rebellion emanzipieren und aufhören, GegnerInnen zu sein. Und wir würden verstehen, dass in einer gemeinsamen Welt Platz für Kontraste und Widersprüche ist. Die rationale Angst vor dem Tod wäre nicht mehr die treibende Kraft für unser Handeln. Angesichts der Endlichkeit unseres Seins, würde Zuneigung zu einem Grundbedürfnis werden. Wir wären gleichzeitig rationale Tiere und wir wären Götter und Göttinnen. Und wir würden uns dem Geheimnis unseres Daseins hingeben.
Martamaría Lasso (1980, Ecuador) ist Literatur- und Kommunikationswissenschaftlerin, Lehrerin und Lernende der Sprach- und Sozialwissenschaften, und lebt mit ihren beiden Kindern im Teenageralter in Quito. Im Laufe ihres Lebens hat sie sich an kollektiven Theaterprojekten in Quito, Seattle und Vancouver beteiligt. In jüngster Zeit befasste sie sich mit den Themen Geschlecht, Rasse und Kolonialität und hat bei Projekten der niederländischen NGO „Hivos International“ mitgewirkt, die sich mit Gruppen junger Führungskräfte und Frauen aus dem Amazonas auseinandersetzen. Nebenbei engagiert sie sich ehrenamtlich in sozialen Hilfsprojekten für gefährdete Frauen und hat seit der Pandemie wieder intensiver mit ihren Händen zu arbeiten begonnen, in erster Linie Töpfern. Sie ist die Nichte des aktuellen Präsidenten Ecuadors, Guillermo Lasso.
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13. Dezember 2021, Kalifornien, USA
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Grenzen überwinden für den Umweltschutz
(Iris Stewart-Frey, Hydrologin und Professorin für Umweltwissenschaften, USA*)
Liebe Post-PandemikerInnen,
Der Mensch denkt gerne in Grenzen. Und wer will es ihm verübeln? Machen doch Grenzen ein Problem überschaubarer, grenzen es sozusagen ein, machen es klein und bearbeitbar. Zum Beispiel können für kleinere Regionen viel einfacher Stakeholder in den Planungsprozess miteinbezogen werden als für ganze Länder oder gar Kontinente. Auch lassen sich mit Grenzen Verantwortlichkeiten sehr klar definieren. Für diese Kinder, Schmetterlinge, Bäume hier, zum Beispiel, sind wir zuständig, für diese hier drüben nicht.
Schade eigentlich, ist aber nun mal so – denn Grenzen, auch denen, die wir für uns selbst gezogen haben, wohnt etwas Unverrückbares inne. Wann fragen wir uns, ob diese Grenzen, die uns in ihrer Legitimität, ihrer Erprobtheit durch die Zeit, in ihrer Standhaftigkeit anstarren, ihre Gültigkeit, ja ihre Berechtigung verloren haben? Gibt es da vielleicht irgendwo eine App, die wir herunterladen können, die uns neben den Schritten, die wir täglich gehen sollten, auch daran erinnert, unsere Grenzen zu überprüfen? Welche Grenzen oder welche Schatten wir vielleicht mit diesen Schritten überspringen sollten? An und über unsere Grenzen zu gehen, ist in vielerlei Hinsicht grenz-wertig, mutig, vielleicht auch verrückt, aber sicherlich eher ein Ausnahmezustand. Ich denke an die Montagsdemonstrationen in der DDR, Bloody Sunday, Tiananmen Square und viele andere Grenzgänger.
Allerdings ist es mit der Pandemie wie mit dem Wasser oder dem Klimawandel. Es liegt in ihrer Natur, sich nicht zwingend innerhalb derjenigen Grenzen aufzuhalten, die Menschen für sie gezogen haben. Diese GrenzenzieherInnen sind natürlich vor allem Menschen, die das Sagen haben. Seit Pandemiebeginn haben wir gelernt, die Welt neu einzuteilen. Da sind zuerst einmal sichere Zonen. Sichere Zonen, das waren die Bereiche, in welchen wir uns meistens wähnten, obwohl wir uns nie genau Gedanken gemacht hatten, wo denn nun die Grenzen um unsere sicheren Zonen verlaufen. Unsichere Zonen mit Versorgungsmangel, unvorbereiteten Gesundheitssystemen, Einschnitten in die Bewegungsfreiheit und Unruhen waren in einer vor-pandemischen ersten Welt wohl-dokumentierten Abenteuerurlauben und Studienfahrten vorbehalten. Mit dem Ausbruch des Coronavirus und seiner Entwicklung zur weltweiten Pandemie drangen unsichere Zonen bis weit hinter die Schranken bürgerlicher Wohlsituiertheit vor, und haben unser Weltbild sehr schnell ins Schaukeln gebracht.
Mit dem schnellen Wechsel der Grenzen zwischen sicheren und gefährlichen Zonen wechseln auch eine Menge Bestimmungen darüber, mit wem wir uns treffen dürfen, wie wir dabei bekleidet sind, wie wir uns verhalten müssen, ob unsere Kinder in die Schule können oder über welche Grenzen wir reisen dürfen. Mit verblüffender Geschwindigkeit haben wir uns an dieses komplizierte Regelwerk und die damit einhergehenden Einschränkungen gewöhnt, auch bei uns in den USA. Hier in Kalifornien etablierte sich sogar ein gewisser Übereifer in der Regelbefolgung: Familien, die mit ihren Kindern nicht mehr in öffentliche Parkanlagen gingen, die Desinfektion von einzelnen Einkaufswagen für einzelne KäuferInnen, genau markierte Wege und lange abstandsbewusste Menschenschlangen, wo immer man sich im öffentlichen Leben bewegte.
Während sich diese Anfangshysterie glücklicherweise gelegt hat, fühle ich mich weiterhin in einem Zustand des Erstaunens. Mir drängen sich ein paar Fragen auf, zum Beispiel, was dieses ganze Desinfektionsgel mit unserer Umwelt und unseren Immunsystemen macht; woher auf einmal das ganze staatliche Geld für Fluggesellschaften kommt, das wir nicht für die Energiewende oder den Regenwald haben; in welches Zauberland eigentlich einzeln in Folie eingepackte Masken nach einmaligem Gebrauch verschwinden, oder wie es sein kann, dass Menschen sich von einem Tempolimit 100 oder einem fleischfreien Tag in der Kantine in den grundlegendsten Bürgerrechten eingeschränkt fühlen, obwohl sie weder Autobahn fahren noch Arbeiten, die gleichen Menschen aber mit den Coronaauflagen kein Problem haben? Oder die Frage, warum wir denn nicht ähnlich radikal umdenken, Grenzen verschieben, Regeln ändern, Bildung auf den Kopf stellen und die Wirtschaft hinten anstellen, wenn es um das Klima, das Wasser und den Artenschutz geht? Ist das vielleicht etwas, was die Pandemie uns mit gnadenloser Offenheit vorgeführt hat? Wenn wir wirklich wollten, ja, dann könnten wir eigentlich auch, oder?
Einmal sah ich eine Dokumentation über das Leben der Navajo, die ihre Kultur und Lebensweise über hunderte von Jahren aus den geschliffenen Steinen und der Hitze des Südwestens der USA geschmiedet haben. Ein Stammesältester demonstrierte, wie seine Großmutter täglich das Geschirr wusch. Sie rieb es langsam, sehr langsam, immer wieder mit Sand ab. Nur ganz am Ende nahm sie einige wenige Tropfen des kostbaren Wassers, um den letzten verbliebenen Staub abzuwaschen. Dieser Prozess war ein Ritual, das sich täglich wiederholte und sich aus der Wasserknappheit entwickelt hat, die in diesem Teil der Welt natürlicherweise besteht und von den europäischen Einwanderern für die Ureinwohner noch drastisch verschlimmert wurde. Sie war aber auch geprägt von einer tiefen Verbindung mit dem, was im tiefsten Sinne das Leben erhält, eingebettet in eine Philosophie, die nicht zwischen Deinem und Meinem eine Grenze zog, sondern an Verbindungen dachte, an Unser und Wir.
Ganz Kalifornien ist – wieder einmal – in einer Dürre, nur scheint es noch nicht in unser kollektives Bewusstsein vorgedrungen zu sein. Normalerweise fällt im Grossteil von Kalifornien von Mai bis Oktober kein Tropfen Regen. Dies ist aber keine Dürre, sondern heisst bei uns einfach Sommer. Eine Dürre haben wir jetzt also nicht, weil es im Sommer warm und trocken war, sondern weil es auch im Winter, wenn wir versuchen, die Wasserspeicher volllaufen zu lassen, so gut wie nicht geregnet hat. Letzten Winter nicht und diesen Winter bisher auch noch nicht. Der grösste Teil von Kalifornien, vor allem da, wo viele Menschen leben und viel industrielle Landwirtschaft betrieben wird, ist in einer Extrem- oder sogar Ausnahmedürre. Im Klartext heisst das, dass die Grundwasserspiegel extrem absinken und Brunnen trocken liegen. Denjenigen, die nur untergeordnete Wasserrechte besitzen, wird der Hahn abgedreht. Zu den Folgeerscheinungen gehört, dass Felder brach liegen und Wälder austrocknen, was auf Jahre Baumsterben und generelle ökologische Katastrophen nach sich ziehen kann.
„Einige dieser ausgegrenzten Kommunen sind bis heute nicht an öffentliche Wassersysteme angeschlossen, sie beziehen ihr Wasser von Brunnen und daran angeschlossenen kleinen Wassersystemen für ein paar Dutzend Leute. Die Ressourcen für Qualitätskontrolle fehlen meist,
so dass viele der Anwohner Wasser trinken, das mit Nitraten, Salzen, und Pestiziden verschmutzt ist.“
Es ist ein viel zu warmer Sonntag, der 2. Advent. Draussen hängen noch die letzten Granatäpfel und Persimonen an den Bäumen. Die Schlagzeilen drehen sich um Omikron, Waffengewalt, Sport und Hundeadoptionen. Nach den Nachrichten über Wasser, Klima, Dürre oder Natur muss ich suchen. Die San Francisco Bay Area ist voll von umweltbewussten Menschen und Outdoortypen: Triathleten, Kletterer, Paddler, Windsurfer, Wanderer, Skifahrer und Radler, die sich wochenendweise auf Berge, Steige, Flüsse, Pfade, Wellen schwingen, meist mit der neuesten Ausrüstung bestückt. Sie ist auch eine der reichsten Gegenden der Welt, und brüstet sich gerne als Zentrum des technischen und netzwerkelnden Erfindungsreichtums. Firmen wie Google und Tesla sind aus diesem Geflecht von Geld, Phantasie, Arbeitswut und unbeschränktem Grössenwahn erwachsen.
Weniger als zwei Autostunden von dieser glitzernden Metropole entfernt, im Central Valley Kaliforniens, gibt es Kommunen, denen jahrelang verweigert wurde, sich an oft nahe gelegene Städte anzuschliessen. Die Grenzen zwischen den Kommunen, die angeschlossen sind, und denjenigen, die es nicht sind, verlaufen oft mitten durch eine Strasse. Auf dieser Seite ja, dort drüben leider nicht. Die Gründe für diese Verweigerung lagen oft darin, dass die projizierten Steuereinnahmen dieser Niederlassungen als nicht ertragreich genug angesehen wurden, um die Ausgaben für Infrastruktur zu rechtfertigen. Die meisten Bewohner dieser Kommunen sind Landarbeiter oder ihre Nachkommen, meist Migranten aus Zentralamerika.
Die jeweils erste Generation schuftete in den Feldern ohne legalen Aufenthaltsstatus, ohne Gesundheitsversorgung, und ohne Schutz vor Ausbeutung – und tut dies auch heute noch. Einige dieser ausgegrenzten Kommunen sind bis heute nicht an öffentliche Wassersysteme angeschlossen, sie beziehen ihr Wasser von Brunnen und daran angeschlossenen kleinen Wassersystemen für ein paar Dutzend Leute. Die Ressourcen für Qualitätskontrolle fehlen meist, so dass viele der Anwohner Wasser trinken, das mit Nitraten, Salzen, und Pestiziden verschmutzt ist. Wenn sie denn überhaupt Wasser in den seichten Brunnen haben. Alleine in diesem Dürrejahr sind über 700 Brunnen im Central Valley eingetrocknet.
Nicht nur die Aquifere des Central Valley werden ausgesaugt, auch die Oberflächengewässer der Flüsse aus der Sierra Nevada werden systematisch geschröpft. Die Einzugsgebiete dieser Flüsse, aus denen San Francisco, San Jose, Los Angeles und San Diego trinken und ihre Rasen wässern, liegen hunderte von Meilen von den Orten entfernt, wo ihr Wasser die Zivilisationen des 21. Jahrhunderts ermöglichen. Durch diese Einzugsgebiete gehen die Grenzen der Menschen für Städte und Landkreise (Counties), die Grenzen der Wasser- und Bewässerungsdistrikte, die respektiv die Städte und die Landwirtschaft bedienen. Wie es dabei um den Wasserhaushalt eines Flusses oder eines Aquifers steht, ist oft Nebensache, da man sich per Gesetz nur um das kümmern kann, was in den eigenen Grenzen passiert und man möglichst wenig weiter nach unten, zum nächsten Nachbarn laufen lassen will.
„Es gab für mich in den letzten 20 Monaten viele Momente des Wunderns darüber,
was auf einmal möglich war. Oft musste ich mich kneifen, um zu testen,
dass ich wirklich wach war, und nicht vor Erschöpfung in den Schlaf gesunken
war oder eine von Mark Zuckerberg neuen Realitäten vorgeführt bekam.“
Vor kurzem habe ich das Original einer der ersten europäischen Karten des Staates Kalifornien besichtigen können. Im Süden des Central Valley ist darauf ein riesiger See eingezeichnet, Tulare Lake. Dieser See, zusammen mit den Feuchtgebieten, die von der Stadt Chico im Norden bis nach Bakersfield im Süden existierten, erhielt äußerst fruchtbare und artenreiche Ökosysteme. Frühe spanische Berichte sprechen von Millionen von Vögeln, Antilopen, und anderem Wild. Sie, die es Jahrtausende lang gab, sind innerhalb von 100 kurzen Jahren des weißen Raubbaus an der Natur verschwunden. Ihre Lebensgrundlage ist wortwörtlich eingetrocknet. Und dieser Raubbau geht unvermindert weiter.
Wasserrechte, ausgegeben in den Zeiten des Goldrush, übertrumpfen die Bedürfnisse der Ökosysteme. In diesem Moment wehrt sich die Wasserbehörde von San Francisco, die auch noch einen guten Teil der nördlichen Bay Area beliefert, gegen eine Regelung, die den Lachsen im Tuolumne River ein Mindestmaß an Wasser zugestehen würde, auch in Dürrezeiten. Diese Lachse waren tausende von Jahren die Lebensgrundlage der Indigenen der Region, sie erfüllen wichtige ökologische Funktionen, tragen Nährstoffe von den Ozeanen in die obersten Regionen der Flusseinzugsgebiete. Nur an den Betonmauern und Grenzen der Menschen scheitern sie, und an den künstlich herbeigeführten niedrigen Wasserständen.
Es gab für mich in den letzten 20 Monaten viele Momente des Wunderns darüber, was auf einmal möglich war. Oft musste ich mich kneifen, um zu testen, dass ich wirklich wach war, und nicht vor Erschöpfung in den Schlaf gesunken war oder eine von Mark Zuckerberg neuen Realitäten vorgeführt bekam.
Eine der Fragen, die uns Umweltwissenschaftler nachts nicht schlafen lässt, ist, warum wir als Menschheit nicht bereit sind, die Phantasie, den Mut, die Energie, das Geld für grundlegende Änderungen aufzubringen. Nicht möglich, nicht gewollt, zu viel Wandel, zu schnell, kein Geld sind die üblichen Argumente. Den Flugverkehr aus Klima- oder Umweltschutzgründen auf das Nötigste zu beschränken, den Autoverkehr herunterzufahren, von zuhause zu arbeiten und die Wirtschaft umzustrukturieren waren vor Corona für die erste Welt unvorstellbar. Woran liegt es nun, dass sich diese Argumente jetzt innerhalb von Wochen als hohler herausgestellt haben als Trumps Wahlkampfreden? Wie kommt es, dass Corona uns nun mehr beschäftigt als das Artensterben und die Klimakrise? Vielleicht daher, dass unsere während der Pandemie vielbeschworene Solidarität eigentlich doch nur uns selbst und unseren Lieben gilt?
Es sind die Armen dieser Welt, die heutzutage hauptsächlich die Klimakrise und den Wassermangel zu spüren bekommen, wir anderen können uns jetzt noch herauskaufen – Bollwerke errichten, ausgedehnte Wasserspeicher bauen, Nahrungsmittel einfliegen. Wir selbst haben wenig Motivation zu verzichten für ein bisschen weniger Klimawandel im fernen Jahr 2050. So sehr die Pandemie uns erlaubt hat den Fokus von eigentlich noch wichtigeren Problemen zu nehmen, hat sie uns auch gezeigt, wie viel in kürzester Zeit möglich ist, wenn wir uns erlauben Grenzen zu hinterfragen – diese Grenzen, die Wassereinzugsgebiete und Regenwälder zersplittern und ausbeuten, die Art von Grenzen, die uns daran hindern, Menschen mit einzubeziehen, und jede Grenzen, die wir in unserem eigenen Kopf gebaut haben und die uns daran hindern, das Unmögliche zustande zu bringen.
Ich freue mich auf den Austausch mit Euch und grüsse aus Kalifornien,
Eure Iris
*Iris Stewart-Frey wurde in Frankfurt am Main geboren und wuchs im Rheingau-Taunus Kreis auf. Nach dem Abitur plante sie einen einjährigen Aufenthalt in Kalifornien. Mehr als 30 Jahre später lebt sie – nach längeren Unterbrechungen in Mexiko, Hawaii und Deutschland – immer noch dort mit Mann, zwei Söhnen, Hasen, Meerschweinchen und Biogarten. In Kalifornien engagierte sie sich in Umweltorganisationen, bei den Grünen, und im biodynamischen Anbau. Reisen brachten sie zu den verschiedensten Menschen, Wüsten und Wasserfällen. Themen, die sie seit dem beschäftigen, sind die nachhaltige Nutzung unserer natürlichen Ressourcen, der Klimawandel, die Natur des Menschen, sein Verhalten zu nicht-humanen Spezies, Agroökologie, Sinn, Gerechtigkeit, Verantwortung und Spiritualität. Seit 2007 ist sie Professorin für Umweltwissenschaften an der Santa Clara University in Kalifornien. Ihre Forschung und Lehre beschäftigen sich mit dem Einfluss des Klimawandels und der industriellen Landwirtschaft auf Flüsse, Grundwasser und Zugang zu Wasser im Westen der USA und Zentralamerika. Sie ist Mitbegründerin der Environmental Justice and the Common Good Initiative an der Santa Clara University und des Northern California Networks for Academic-Community Partnerships for Environmental Justice.
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22. November 2021, Tumbaco, Ecuador
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Vom Nicht-Wissen und anderen Weisheiten
(Nicolás Cambas, Künstler, Clown und Katalysator der kollektiven Transformation durch Kreativität, Argentinien/Ecuador*)
Unser eigenes Universum, genauso wie das kollektive, ist derart von Theorien geprägt, dass diese sogar die physikalische Reichweite unserer Sichtweise bestimmen. Wir schaffen es nicht, jene Dinge zu identifizieren, die in unserer Kultur und Sprache nicht konzeptualisiert sind. So wie wir bestimmte Muster in der Natur auf Grund unserer Ignoranz oder unserer Distanz nicht einordnen können, die aber einem Jäger und Sammler genug Handlungshinweise geben, um sein eigenes Überleben zu sichern.
Trotzdem ändern Theorien nichts an der Natur des Lebens, die zum Mysterium gehört. Ich kann mich diesem Mysterium zwar mehr oder weniger annähern, aber aus meiner theoretisierenden und endlichen Form des Menschseins, kann ich es nicht vollständig entschlüsseln. Und Sie, als LeserIn, können das auch nicht – womit wir uns auf einer gemeinsamen Ebene befinden. Wir können zwar so tun, als hätten wir die Dinge unter Kontrolle; und indem wir an künstlichen Routinen festhalten, die zu funktionieren scheinen, können wir es sogar am eigenen Körper erfahren. Aber es gibt Dinge, die so nicht funktionieren. Und es sind nicht einmal wenige.
Wenn wir es also wagen, zu erkennen, dass wir nichts wissen und für ein paar Augenblicke die Tatsache atmen, nichts zu wissen?
„Ich weiss nur, dass ich nichts weiss“, sagte Sokrates vor rund 2.500 Jahren. Nein, auch ich verstehe nicht viel von dem, was in der Welt vor sich geht. Ich weiß, dass ich nicht weiß, was vor sich geht, und das bringt mir inmitten von so viel Ungewissheit etwas Frieden. Und in gewisser Weise gibt es mir sogar eine gewisse Freiheit. Ich brauche keine Fahnen zu hissen, und kann stattdessen beim Schlürfen eines Morgentees zuschauen, wie meine Theorien ins Leere fallen und ihnen zum Abschied winken. Und ich werde immer wieder überrascht sein, wie komplex und einfach alles ist und wie wenig ich tatsächlich weiss. Dennoch: Ich will wissen und verstehen! Auch mir drückt das Gewicht dieser Welt auf den Schultern. Letztendlich ändert das Wissen, dass ich nichts weiß, zwar nicht die Welt, aber es ist ein grossartiges persönliches Ventil der Entladung.
Wir leben seit langem in einer Welt von Menschen, die zu wissen glauben, oder besser gesagt: daran glauben, dass es Andere gibt, die es wissen, und dann denjenigen Bescheid sagen, die das Sagen haben. Innerhalb dieser Mischung aus „Weisheit“ und „Macht“, die unsere Realität derzeit prägt, existiert die Möglichkeit des Nicht-Wissens nicht. Denn das Eingestehen dieses Nicht-Wissens, stellt alles auf den Kopf. Und das ist sehr schwierig zu kontrollieren, und den „Mächtigen“ daher sehr unangenehm. So war es auch zu Zeiten von Sokrates, der für seine Ideen, „die die Jugend in Aufruhr versetzten“ zum Tode verurteilt wurde.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte waren die Unwissenden die Verrückten, die Wahnsinnigen, die Randständigen, die Querdenker, die Verärgerten, die Ignorierten, die Gefürchteten und die Bewunderten. Doch auch sie sind zum Schweigen gebracht worden.
Es gibt viele und gute Geschichten von „verrückten“ Menschen. Sie, die uns etwas anderes gezeigt haben als die gängige Erzählung, und uns dadurch ein Stück weit wachgerüttelt haben: Von Lao Tse im Taoismus (6. Jahrhundert vor Christus, China) und dem Sufi Nasrudin (13-14. Jahrhundert, arabischer Raum) über die Heyokas Sioux (Nordamerika) bis hin zu Dali (1904-1989, Europa) und einer Vielzahl unbekannter Verrückter ist dieser Archetyp immer schon unter uns gewesen, und hat uns mit seiner schöpferischen Reibung aufgeweckt.
Was uns der Verrückte mit seinem Nichtwissen zeigt, ist, dass die Normen einer Gesellschaft weder in Stein gemeisselt, noch einzigartig, noch unverzichtbar sind. In der Welt der Ahnen sind die Verrückten heilig, denn sie halten das Kollektiv wach, und dies oftmals mit Humor.
Im Gegensatz dazu ist in der Welt, in der der vorliegende Text gelesen wird, die Möglichkeit des Nicht-Wissens schwindelerregend und wird daher gemieden und abgelehnt. Es ist unangenehm und chaotisch, wenn man sich von den bekannten Formen, den Bräuchen und Verpflichtungen, den Gurus und Situationen unserer Zeit lossagen muss. Doch um mit dem Nicht-Wissen zu beginnen, muss man die Glaubenssätze der Massen loslassen.
Manche bezeichnen den endgültigen Verlust der Flexibilität des Wesens als sogenannte Kristallisierung, also einen Prozess, bei dem die Psyche am Bekannten festhält und aufhört, sich weiterzuentwickeln. Eine kristallisierte Person oder eine kristallisierte Gruppe von Personen sind diejenigen, die aufhören zu lernen und ihren Horizont nicht mehr erweitern. Ich stelle sie mir als einen gläsernen Baum vor, an dem keine einzige Frucht und kein einziges Blatt wachsen kann und alles wie ein altes Ornament auf einem Regal befestigt ist. Dort sind sie stehengeblieben.
Hervorgehoben sei an dieser Stelle die Tatsache, dass sowohl Sie als auch ich – da wir teilweise zu diesem Baum gehören – bestimmt in einer Ecke unseres Seins bereits mehr oder weniger kristallisiert sind. Klar, es gibt verschiedene Stufen. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass von den Jungen bis zu den Alten diejenigen, die sich am stärksten an das Bestehende und seine Kategorien klammern, in Zeiten turbulenter Veränderungen wie der jetzigen am meisten leiden.
Die Spannung, die durch das Festhalten an einer früheren Anhäufung von hypothetischen Wahrheiten entsteht, die mit dem Fortschreiten der neuen Zeit unaufhaltsam dahinschmelzen, macht krank. Und dies geschieht mit den Individuen, vor allem aber mit den Massen. Die kristallisierte Masse ignoriert ihre Unwissenheit und folgt falschen Propheten. Und wie schon so oft in der Vergangenheit wird sie, wenn sie richtig gewürzt ist, jedem den Krieg ansagen, der eine andere Struktur vorschlägt als die, in der sie gefangen ist. Die Masse besteht darauf, sich an deformierte Normalitäten zu klammern, und ist nicht gewillt, sich selber als manipuliert, kontrolliert und ignorant wahrzunehmen.
Die Masse denkt, sie sei wissenschaftlich, aber sie ist in erster Linie religiös.
Um aktiv versuchen zu begreifen, was sich derzeit auf dem Planeten abspielt, scheint mir Fragen stellen ein guter Weg. Niemand hat gesagt, dass Nicht-Wissen gleichbedeutend ist mit Ignorieren oder sich Einfrieren. Denn ein unmittelbares Symptom des Nichtwissens ist die Neugier, die Schwester der Kreativität. Die Neugier stellt Fragen und die Kreativität erfindet Antworten. Das Kind, das nichts weiss, stellt Fragen über seinen Körper: mit seinem Blick, mit seinem Speichel, mit seiner Präsenz und mit seinen Spielen. Und so entdeckt es mit der Zeit die Erfahrung, indem es ein kreativ-experimentelles Gedächtnis generiert, welches seine Spuren hinterlässt, bis es in die Schule kommt, wo es dann aufhört, unbequeme Fragen zu stellen und stattdessen zu „lernen“ und zu „wissen“. Da endet diese natürliche Neugierde – in vielen Fällen für immer. Und es erscheinen plötzlich Formeln und Theoreme, vor allem aber Narrative.
„Die Wissenschaft, die in der Vergangenheit grosse Fortschritte gemacht hat,
war die Wissenschaft neugieriger Menschen, die wussten, dass sie nichts wussten
und Fragen stellten. Und sie beobachteten und entdeckten – im Wissen,
dass es immer mehr Fragen zu stellen und mehr zu entdecken gibt.“
Eine kurze Frage an die Allgemeinheit: Warum glauben wir immer noch so sehr an dieses Narrativ, das wir „Bildung“ nennen? Wenn wir uns die Welt anschauen, haben wir dann das Gefühl, dass es gute Ergebnisse liefert?
Sagen wir es mal so: An vielen Stellen lauern versteckte Fallen, insbesondere in unserer Sprache. Ähnlich wie es George Orwell (1903-1950) in seinem Buch 1984 beschreibt, bringen wir uns selber bei, Indoktrination „Bildung“ zu nennen. Dabei sind wir über Generationen hinweg indoktriniert worden. Indoktrinieren bedeutet, eine Doktrin aufzwingen. Und diese Doktrin ist so auferlegt, dass man sie bis vor kurzem nicht sehen konnte – insbesondere, wenn man wie die meisten Menschen abgelenkt war. Die Doktrin war Religion, war ein Imperium und war Krieg. Heute nennt sich dieselbe Doktrin „Wissenschaft“.
Wenn wir die Welt um uns herum mit etwas Abstand betrachten, fällt es uns wie Schuppen von den Augen – und der Kaiser läuft plötzlich nackt an uns vorbei. Die Wissenschaft, die in der Vergangenheit grosse Fortschritte gemacht hat, war die Wissenschaft neugieriger Menschen, die wussten, dass sie nichts wussten und Fragen stellten. Und sie beobachteten und entdeckten – im Wissen, dass es immer mehr Fragen zu stellen und mehr zu entdecken gibt. Jede Kultur hat die Wissenschaft auf ihre eigene Art und Weise ausgeübt und das Universum auf der Grundlage einer wertvollen Vielfalt entdeckt: Die Magie der menschlichen Neugier im Angesicht des universellen Geheimnisses.
Diese experimentellen Kenntnisse und diese Wissenschaften – ich schliesse das Heidentum und den Schamanismus, die Alchemie und die Astrologie mit ein – wurden jedoch im Laufe umfangreicher historischer Prozesse von der einzigen „Wissenschaft“ usurpiert, und diese wiederum funktioniert heute wie eine Religion.
Ich sage Religion, weil diese auch auf endgültigen Definitionen beruht, aufhört, Fragen zu stellen, und sich endgültig zu einer einzigen, unverrückbaren Version der Existenz herauskristallisiert, die zufälligerweise immer den Mächtigen in die Hände spielt. Aus ihrer materialistischen Fabel heraus, die jede individuelle Macht, jede innere Göttlichkeit auslöscht, stellt die Wissenschaft ihre symbolische „Macht“ zur Schau, um uns ihren Wahrheiten zu unterwerfen und die Unterwerfung jener Individuen zu rechtfertigen, die einen anderen Weg als die Masse einschlagen. Es ist die „Wissenschaft“ im Dienste der „Macht“: die Religion.
Oder liege ich damit etwa falsch?
Halten wir fest: Die Programme, die in dieser Welt eingeführt wurden, mit einer „Wissenschaft“ an der Spitze, die vorschreibt, was der Mensch in jeder Phase seines Lebens „sein“ und „wissen“ muss, trennen uns von unserem Potenzial als Individuum und als Spezies und reissen uns letztlich auseinander. Wir „lernen“, die Welt in immer mehr einzelne Fragmente zu unterteilen, aber wir wissen nicht, was sie als Ganzes ist und was ihr Wesen ausmacht. Auch nicht unsere Essenz! Wir sind voll von Spezialisten für bestimmte Schrauben und Muttern, die nicht wissen, wie die Maschine funktioniert oder wozu sie überhaupt dient. Und so gehen wir dahin, zersplittert und verloren, und wiederholen dasselbe immer und immer wieder, und halten die Richtung, die uns die grosse Maschine vorgibt. Ich habe das Bild von Charlie Chaplin (1889-1977) vor mir, der in „Moderne Zeiten“ von den Maschinen verschluckt wird … „Bildung“ macht uns für all das fit, und zwar ziemlich perfekt. Ich weiss es nicht, aber ich habe den Eindruck, dass all dies kein Zufall ist.
Woran das wohl liegen mag?
Vielleicht, weil diejenigen, die sich keine Fragen stellen, nur in der Welt leben können, die ihnen massiv verkauft wird, und es für sie unmöglich ist, über die eigene Wahrnehmung der Welt durch Beobachtung, Neugier und Kreativität zu existieren? Nun, wir kaufen diese Version der Welt, weil wir nicht wissen, wie wir es anders machen sollen – und natürlich auch, weil wir zu faul sind, etwas zu ändern. Und ausserdem ist es das, was alle anderen schliesslich auch tun. Was für eine wunderbare Welt, die sie uns da feilbieten!
Zum Schluss habe ich noch zwei Fragen: Gibt es jemanden, der hier bleiben möchte? Und: Wie kommen wir aus der aktuellen Situation heraus? Aus meiner kleinen, ungeschulten Ecke sehe ich zwei mögliche Wege: jenen der Massen und jenen der Kollektive der Individuen. Die Masse wurde bereits beschrieben, zumindest teilweise, denn das Ganze ist ziemlich komplex. Vor allem aber ist die Masse langweilig und typisch. Jeder, der sie von aussen betrachtet, wird verstehen, wohin sie sich verirrt hat. Hoffnungslos verirrt.
Der Weg der Kollektive an Individuen dagegen steht weder beschrieben noch geschrieben. Es liegt an jedem Einzelnen es zu wagen: Davon auszugehen, dass er oder sie nicht weiß und aus Neugier – die trotz des zunehmenden Verlusts des Unterscheidbaren überlebt hat – zu beschliessen, das Kommende zu entdecken. Und zwar durch Neugier, Kreativität, Spiel und Resilienz. Und natürlich mit der Schlauheit, der Liebe und der Geduld, die notwendig sind, um in kleinen Kollektiven von Individuen, die die Theorien aufgeben und sich auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen, neue unerforschte Wege zu entdecken – während alles, was bisher bekannt war, demontiert wird.
*Nicolás Cambas (1982, Argentinien) ist Künstler, Clown und Katalysator der kollektiven Transformation durch Kreativität. In den vergangen 18 Jahren hat er an der Schnittstelle zwischen Kunst und Schamanismus geforscht und als nomadischer Clown in Lateinamerika in engem Kontakt mit den Kulturen der Indigenen gelebt. Mit seinem methodischen Vorschlag CAMINOCREATIVO ist er in Europa und Lateinamerika präsent, um mögliche Wege für einen Paradigmenwechsel in dieser Zeit des kollektiven Wandels aufzuzeigen. Er lebt seit Jahren in Ecuador.
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25. Oktober 2021, Kalifornien, USA
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UN-Gipfel schweigt zu den Ursachen, warum unser Ernährungssystem versagt
(Hans R. Herren, Schweizer Insektenforscher sowie Landwirtschafts- und Entwicklungsexperte, USA*)
Am UN-Ernährungssystemgipfel 2021 wurde die Chance vertan, echte Alternativen zu den von Konzernen gesteuerten, umweltschädlichen Produktionsmethoden für unsere Lebensmittel zu finden. Es hätte ein Sprung nach vorne für die Zukunft des Planeten sein sollen, aber stattdessen war es ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man einen Gipfel eben nicht durchführen sollte.
Der UN-Gipfel zu den Ernährungssystemen sollte eine Wende in unserem gescheiterten Ernährungssystem herbeiführen und den Weg in eine klimaresistente, ernährungssichere und gerechte Zukunft weisen. Stattdessen stehen wir wieder am Anfang: ein Sammelsurium von guten, schlechten und hässlichen «Lösungen», aber ein ohrenbetäubendes Schweigen zu den eigentlichen Ursachen der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind.
Ein internationales Gipfeltreffen zum Thema Ernährung war längst überfällig. Unser Ernährungssystem funktioniert weder für die Menschen noch für die Tiere oder den Planeten. Die Lebensmittelproduktion setzt grosse Mengen an Treibhausgasen frei, die den Planeten erwärmen und für 37 Prozent der Emissionen verantwortlich sind. Fettleibigkeit und Unterernährung nehmen zu, während die Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers ins Gegenteil umschlagen: Im vergangenen Jahr musste ein Zehntel der Weltbevölkerung hungern.
Eine Veränderung der Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, verarbeiten und konsumieren, ist der Schlüssel zur Bewältigung all dieser Probleme. Das Gipfeltreffen war eine entscheidende Gelegenheit, um die Art von Veränderungen herbeizuführen, die ausserhalb dieser aussergewöhnlichen Momente schlicht nicht möglich sind. Was ist also schiefgelaufen?
Der übermässige Einfluss der Konzerne auf den Gipfel – ein Sektor, der weitgehend für den schlechten Zustand der Ernährungssysteme verantwortlich ist – hat von Anfang an für Kontroversen gesorgt. Das Gipfeltreffen ging eine enge Partnerschaft mit dem Weltwirtschaftsforum ein, einer privatwirtschaftlichen Organisation, die gegründet wurde, um die Interessen der Wirtschaft zu vertreten. Zudem wurde es von der Bill and Melinda Gates Foundation gesponsert, deren Verbindungen zum Privatsektor kein Geheimnis sind.
Dies führte zu einem Boykott durch Gruppen, die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten vertreten, bis hin zu internationalen Nichtregierungsorganisationen. Ihre Bedenken waren wohlbegründet. Die Lebensmittel- und Agrarindustrie hat im Vorfeld des Gipfels die Transformation des Ernährungssystems thematisiert und dabei unter anderem die Themen Klima, Lebensgrundlagen, Natur und Transparenz angesprochen. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass sich die Konzerne an die Regeln halten, wenn die Regierungen sie nicht zur Verantwortung ziehen.
Mangelnder Ehrgeiz war ein weiteres grosses Hindernis für den Erfolg. Die Notwendigkeit einer umfassenden Reform war noch nie so klar wie heute: Neue Zahlen aus der vergangenen Woche belegen, dass 87 Prozent der weltweiten Agrarsubventionen in Höhe von 540 Milliarden US-Dollar dem Klima, der Natur und der menschlichen Gesundheit schaden. Dennoch ist es dem Gipfel nicht gelungen, einen klaren Kurs in Richtung einer nachhaltigeren Lebensmittelproduktion einzuschlagen.
Es hat sich gezeigt, dass die Agrarökologie die Ernteerträge um fast 80 Prozent erhöht, den Zugang der Menschen zu Lebensmitteln verbessert und den Hunger reduziert, die Einkünfte der Bäuerinnen und Bauern steigert und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Überschwemmungen, Dürren und anderen Schocks erhöht. Nichtsdestotrotz ist die Agrarökologie nach wie vor stark unterfinanziert.
Zwar wurden auf dem Gipfel einige Zusagen zur Reform der Subventionen gemacht und einige Regierungen beginnen, die Agrarökologie ernst zu nehmen. Die meisten Fonds werden jedoch weiterhin einen Ansatz unterstützen, der mehr oder weniger dem «Business as usual» entspricht. So diente der Gipfel beispielsweise als Startrampe für AIM (Agriculture Innovation Mission for Climate), eine US-Klimainitiative zur Förderung einer «klimaintelligenten» Landwirtschaft, die sich weitgehend darauf konzentriert, die Klimaauswirkungen der derzeitigen – stark umweltverschmutzenden – Lebensmittelproduktion abzumildern, statt zu wirklich nachhaltigen landwirtschaftlichen Systemen überzugehen.
Das Gipfeltreffen wurde auch genutzt, um Spenden für die Alliance for a Green Revolution in Africa (AGRA) zu sammeln. Diese Initiative wird von der Gates-Stiftung finanziert und von Agnes Kalibata, der Sonderbeauftragten des Gipfels, geleitet. Mehr Geld für AGRA bedeutet mehr Lösungen von oben nach unten, die für die Afrikanerinnen und Afrikaner und nicht mit ihnen entwickelt werden.
„Die Regierungen müssen auf bestehenden Institutionen wie dem Ausschuss für Ernährungssicherheit aufbauen und dürfen diese nicht untergraben.“
Das letzte Aushängeschild des Gipfels war eine von oben nach unten gerichtete intransparente Arbeitsweise. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der «Scientific Group», die eingerichtet wurde, um die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger schnell zu beraten, die aber wegen ihrer Voreingenommenheit zugunsten industriefreundlicher High-Tech-Lösungen in die Kritik geraten ist.
Die Organisatoren sahen sich gezwungen, die Pläne aufzugeben, diese Gruppe in ein ständiges Gremium umzuwandeln. Die Versuche, diese Version der Wissenschaft voranzutreiben, werden den Gipfel jedoch überdauern und drohen, die wichtige Arbeit bestehender Institutionen wie des Ausschusses für Welternährungssicherheit zu untergraben, in dessen wissenschaftlichem Gremium eine grössere Bandbreite von Stimmen, einschliesslich der Produzentinnen und Produzenten sowie der Zivilgesellschaft, vertreten ist.
Zusammengenommen haben diese Versäumnisse zu einem Gipfel geführt, der uns weiter von wirklichen Lösungen für die Ernährung und das Klima entfernt hat. Wie geht es nun weiter?
Um wieder auf den richtigen Weg zu kommen, muss ein Konsens über Ideen wie die Agrarökologie geschaffen werden, die nachweislich etwas bewirken. Damit dies erreicht werden kann, müssen die Regierungen auf bestehenden Institutionen wie dem Ausschuss für Ernährungssicherheit aufbauen und dürfen diese nicht untergraben. Denn sie werden von den Menschen unterstützt, die an vorderster Front von der Ernährungs-, Gesundheits- und Klimakrise betroffen sind. Dies ist das richtige Forum, um die Agenda für die Transformation unserer Ernährungssysteme wieder aufzugreifen und die Ideen voranzubringen, mit denen dies erreicht werden kann.
Der Klima- und der Biodiversitätsgipfel bieten uns eine weitere Chance, die Transformation des Ernährungssystems auf den Tisch zu bringen. Die Regierungen müssen diese Chance erkennen und ein faires und nachhaltiges Ernährungssystem in den Mittelpunkt eines Abkommens zur Senkung der CO2- und Methanemissionen, eines Abkommens zur Reduzierung der Entwaldung und von Ausgabenentscheidungen stellen.
Der Gipfel zu den Ernährungssystemen hat das «Business as usual» als etwas Neues aufgetischt. Angesichts der dringenden Klima-, Gesundheits- und Umweltkrisen können wir es uns nicht leisten, diesen Fehler erneut zu begehen.
*Dr. Hans Rudolf Herren (1947) ist ein Schweizer Insektenforscher, Landwirtschafts- und Entwicklungsexperte. Als Pionier in der biologischen Schädlingsbekämpfung bekämpfte er in den 1980er Jahren in Subsahara-Afrika erfolgreich die Schmierläuse, die dort das wichtige Grundnahrungsmittel Maniok bedrohten. Damit rettete er das Leben von über 20 Millionen Menschen. Als erster Schweizer wurde Herren dafür 1995 mit dem Welternährungspreis ausgezeichnet. 1998 war er Mitbegründer von Biovision, mit der er 2013 den Alternativen Nobelpreis «Right Livelihood Award» gewann. Er ist Präsident des Millennium Institute (Washington DC) und im Vorstand des Internationalen Verbands der ökologischen Landwirtschaftsbewegungen (IFOAM) tätig. Hans R. Herren lebt in Kalifornien.
Dieser Artikel ist am 23. September auf der Website der Thomson Reuters Foundation erstveröffentlicht worden. Die Übersetzung des Texts aus dem Englischen erfolgte durch Textcontrol, Zürich. Der Artikel ist seit Anfang Oktober auf der Webseite biovision.ch aufgeschaltet und erschien am 19. Oktober 2021 auch in der Zeitung «Zeit-Fragen».
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18. Oktober 2021, El Bolsón, Argentinien
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Feminismus & Ökologie: Kämpfe, die das Kapital nicht verdaut
(Adriana Marcus, Buchautorin und pensionierte Ärztin, Argentinien*)
Guten Morgen Leute
Aus meinem kleinen Lehm-und-Holz-Haus im Andenwald Patagoniens betrachte ich die Auswirkungen des argentinischen Frühlings, der trotz des morgendlichen Frosts zum Spriessen und Blühen ruft. Und ich beginne über die Zeit nach der Pandemie nachzudenken, wozu mich die KollegInnen des Post-Pandemic-Planets eingeladen haben.
Ganz ehrlich: Ich war anfangs fasziniert davon, daheim zu sein. Normalerweise fahre ich alle zwei Monate zu meiner 95-jährigen Mutter, die 2000 Kilometer entfernt wohnt. Doch es sagte mir im Herbst 2020 durchaus zu, im gemeinsamen Gemüsegarten mit meiner Nachbarin zu arbeiten, zu plaudern, mit ihr gut auszukommen. Oder vor dem Holzherd zu stricken, selbstgemachte Bücher zu nähen, zu schreiben und zu lesen – ohne Zeitdruck oder die Eile, kochen zu müssen. Ich weiss, dass die meisten Menschen eine harte Zeit durchmachten, unter Druck gesetzt im Homeoffice, eingesperrt in winzige Wohnungen.
Es kam zu vielen Feminiziden, Depressionen, Panikattacken, Vernachlässigung alter und kranker Menschen und es gab viele Menschen, die sich auf Grund der Einschränkungen nicht um ihre Gesundheit kümmern konnten. Und jene, die einen Großteil des Lebens in den Städten aufrechterhielten, stammten ausgerechnet aus den am meisten gefährdeten Sektoren. Es waren die Hausangestellten und die unter prekärsten Bedingungen schuftenden Liefersdienstleistenden, die für das Leben der Mittel- und Oberschicht sorgten – zumindest hier in meinem Land, wo Arbeitslosigkeit, Inflation und politischer Klassenkampf die Bevölkerung verarmen liessen.
Vielleicht wird ja jetzt, nachdem das gelebte Leid sichtbar wurde, das urbane Leben allmählich in Frage gestellt. Yayo Herrero López, Anthropologin und Ökofeministin aus Madrid, sagt, dass Grossstädte nichts produzieren, was der Nachhaltigkeit des Lebens dient. Aber letztlich werden genau dort die Entscheidungen für uns alle getroffen
Warum, frage ich mich, mussten gesunde Menschen während Monaten millionenfach „unter Quarantäne“ gestellt werden? Es ist das erste Mal in der uns bekannten Geschichte der Menschheit, dass dies geschehen ist. Aus gesundheitlicher Sicht ist es sinnvoll, die Betroffenen auf die für ihre Genesung notwendige Ruhe hinzuweisen und die Nähe zu gesunden Menschen, die sich anstecken könnten, zu meiden.
Vielleicht war diese Entscheidung – die in Bezug auf die kollektive psychische Gesundheit, die Wirtschaft, die Arbeit, die Vernachlässigung älterer Menschen und die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sehr kostspielig ist – eher politischer als gesundheitlicher Natur. Vielleicht wurde sie auch nicht auf der Ebene der nationalen Regierungen getroffen, sondern auf einer viel höheren Ebene. So geht regieren nunmal.
Wissen Sie, welche Erinnerung mich da gerade einholen? Jene zu den Malvinas (Falklandinseln). Sieben Jahre und sechs Tage nach dem Militärputsch in Argentinien am 24. März 1976 organisierte die Zentrale Arbeitergewerkschaft CGT (Confederación General de Trabajo) eine riesige nationale Mobilisierung „für Frieden, Brot und Arbeit“. Eigentlich mehr als lobenswerte Ziele, nicht? Doch auf die Delegitimierung der Demonstration folgte sofort eine grausame Repression. Und nur drei Tage später schickten die Machthaber um Diktator Jorge Rafael Videla (1925-2013) die Streitkräfte und Wehrpflichtigen in Richtung Malvinas, ein Gebiet, das wir als Territorium Argentiniens betrachten.
Eigentlich war dieses Manöver für den 9. Juli vorgesehen, dem Unabhängigkeitstag Argentiniens, also ein bedeutendes Datum. Man wollte durch die Rückgewinnung der Inseln gegen Grossbritannien eine zweite Unabhängigkeit feiern. Doch der Volksaufstand von Ende März 1982 kam dazwischen. Um diesen unsichtbar zu machen, schickte die genozide Diktatur, die zu diesem Zeitpunkt bereits breit in Frage gestellt wurde, das Militär Richtung Süden. Videla&Co. schürten dadurch auf seltsame Weise das fremdenfeindliche Feuer, das – wie wir wissen – die Menschen jenseits aller Vernunft vereint.
Es ist eine der grossen Lehren des Faschismus: ein riesiges, allgemeines Bedrohungsszenario zu schaffen, um einerseits die Menschen zu disziplinieren und andererseits sie zu vereinigen, sodass sie folgsam werden und ihre früheren Gefühle vergessen. Denn: Ein äusserer oder ein innerer Feind wirkt einend. Dies war der Fall beim Krieg um die Malvinas, der kurz und äusserst traumatisch war. Die kollektive Euphorie der ersten Tage schlug schnell in Empörung und schuldbewusste Gleichgültigkeit um, als die überlebenden Soldaten begannen, von ihren Erfahrungen zu berichten, und der Betrug aufgedeckt wurde.
Deshalb die Frage knapp vier Jahrzehnte später: Ist das Virus der unsichtbare und universelle Feind, der uns verbindet, und der uns die Zivilisationskrise, die Unfähigkeit des vernichtenden und selbstmörderischen neoliberalen Systems und die Krise von 2008 vergessen lässt und uns das Erwachen des Volkes – etwa die Aufstände in Ecuador, Bolivien oder Chile im Oktober 2019, die brutal niedergeschlagen wurden, oder die feministische Welle, die den Planeten erfasst hat – zu verbergen versucht, und damit auch der antipatriarchale, antikapitalistische und antikolonialistische Vorschlag, das Leben und nicht den Markt in den Mittelpunkt zu stellen?
Diesbezüglich möchte ich noch hinzufügen, dass in der Region, in der ich lebe, die Enkel der Indigenen, die den Genozid Ende des 19. Jahrhunderts überlebt haben („La conquista del desierto“), und die die Grundlage für die Gründung von Nationalstaaten bilden, daran sind ihre Sprache, ihre Kultur und ihr Land zurückzugewinnen und dadurch verdeutlichen, dass die Staaten nicht bereit sind, Wiedergutmachung für jene zu leisten, die als erste hier gelebt haben, und die sie auszurotten versucht hatten.
„Ich glaube, dass die Wissenschaft, die sich im Westen aus einer instrumentellen Logik entwickelt hat, die für das mechanistische Paradigma typisch ist, zu einer neuen Religion geworden ist.“
Was die Impfstoffe betrifft, teile ich Ihnen lediglich die Gründe für meine Entscheidung mit, mich nicht impfen zu lassen – wobei ich die Entscheidungen anderer respektiere, denn die Impfung ist fakultativ, und zwar deshalb, weil sie sich derzeit noch in einer Versuchsphase befindet. Siehe dazu auch die Nürnberger Protokolle in Bezug auf die ethischen Grundsätze bei der Einführung von Arzneimitteln. Dort heisst es, dass Freiwillige, die an einer experimentellen Studie teilnehmen – und dazu gehört die Impfung gegen Covid-19 –, über die Risiken informiert werden und wissen müssen, wohin sie sich im Falle von Nebenwirkungen wenden können, und dass sie aufgefordert werden, eine Einverständniserklärung zu unterzeichnen.
Es gibt vielfältige und widersprüchliche Informationen über die Impfstoffe. Doch abgesehen davon, dass mir die Nanotechnologie völlig fremd ist, veranlasst mich allein die Tatsache, dass ein Virus – ein Proteinpartikel, das Informationen in Form von DNA oder RNA enthält und zur Vermehrung die Infrastruktur einer lebenden Zelle benötigt, da es per se kein Lebewesen ist – unter Umgehung der natürlichen Eintrittswege durch eine Injektion in den Organismus gelangt und die natürliche Barriere der Haut verletzt, die Impfung abzulehnen.
Ich glaube, dass die Wissenschaft, die sich im Westen aus einer instrumentellen Logik entwickelt hat, die für das mechanistische Paradigma typisch ist, zu einer neuen Religion geworden ist. Wir vertrauen der Wissenschaft blind, und erwarten, dass sie uns von den fantastischen Ergebnissen ihrer Errungenschaften berichtet. Das menschliche Dasein hat sein Spiritualität verloren, mit der unsere Vorfahren in Beziehung standen; die Natur beispielsweise oder andere Lebewesen, mit denen sie zusammenlebten. Diese Entsakralisierung der Welt durch das wissenschaftliche Denken unserer heutigen Gesellschaft verwandelt die Subjekte (sämtliche Lebewesen) in Objekte und manipuliert die Natur durch Eingriffe, die ihre Physiologie und ihren Metabolismus ernsthaft verändern – und dies vor unseren naiven und vertrauensvollen oder eben blinden und gleichgültigen Augen. Um es in den Worten des katalanischen Musikers und Schriftstellers Joan Manuel Serrat auszudrücken: Die Wissenschaft „spielt mit Dingen, die nicht ersetzt werden können“. Dadurch umgeht sie der natürliche Lauf der Zeit, und betrügt dadurch unser Immunsystem.
Die Eingriffe, die wir Menschen zu unserem vermeintlichen Nutzen entwickeln – Stichwort Impfung –, greifen oft in physiologische Prozesse ein und schaffen neue Probleme. Und so zerbrechen wir uns den Kopf über die Suche nach weit hergeholten technologischen Lösungen, die in einer nicht enden wollenden Spirale von Komplikationen wieder neue Störungen hervorrufen. Davon sprach bereits die britische Autorin Mary Shelley (1797-1851) in „Frankenstein“, der durch Horrorfilme in seiner ursprünglichen Anprangerung verfremdet und verzerrt wurde.
Ich habe das Gefühl, dass der Impfstoff uns einerseits entlastet, es sich dabei aber um einen psychomagischen Akt handelt, der es uns ermöglicht, zu unserer geselligen, sozialen und gemeinschaftlichen Lebensweise zurückzukehren, die wir so sehr vermisst haben. Wir denken nicht viel darüber nach. Wenn es ausreicht, sich impfen zu lassen, um ein Leben wie früher führen zu können – reisen, Konzerte, Stadionbesuche, Fussball spielen, in die Schule oder Universität gehen, arbeiten – dann lasse ich mich impfen, und das war’s. Ich stelle lediglich meinen Körper zur Verfügung.
„Oder aber sie oder er lässt sich im Sessel der Bequemlichkeit nieder,
im Sessel des bereits Bekannten, und delegiert unser Schicksal an andere,
ähnlich wie es uns die repräsentative Demokratie und die TV-Superhelden lehren.“
Es gibt auch Menschen, die es vorziehen, nicht all zu viel zu fragen, und auf den Staat vertrauen. Sie fühlen sich von den Regierenden umsorgt und drücken sie in die Rolle eines Vaters, der ihnen Entscheidungen abnimmt und damit auch die Verantwortung für ihr eigenes Leben. Sie anerkennen, dass sie eigentlich nicht verstehen, worum es geht und lagern die Sorge um ihr Leben deshalb aus. Oder handelt es sich dabei möglicherweise doch um Bequemlichkeit, intellektuelle Faulheit, die Unmöglichkeit, eigene Gedanken zu entwickeln oder gar die Angst, aus der menschlichen Herde ausgeschlossen zu werden?
Tief im Inneren spielt die für die westliche Sichtweise so typische Angst vor dem Tod eine wichtige Rolle. Die Indigenen Lateinamerikas sehen das anders und wissen, dass der Tod zum Leben gehört, und dass wir Platz schaffen müssen für die, die nach uns kommen. Sie wissen, dass das Leben sterben muss, damit der Lauf der Zeit weitergeht – genau so wie wir es in der Natur beobachten können, die Natur, von der auch wir ein Teil sind. Kollektive Rituale, wie zum Beispiel der Tag der Toten in Mexiko, können sich so in festliche Ereignisse verwandeln.
Wie dem auch sei: Letztendlich tut jeder, was er kann, glaubt an das, was er glauben will, sucht und taucht, und geht weiter, bewusst und verantwortungsvoll. Oder aber sie oder er lässt sich im Sessel der Bequemlichkeit nieder, im Sessel des bereits Bekannten, und delegiert unser Schicksal an andere, ähnlich wie es uns die repräsentative Demokratie und die TV-Superhelden lehren.
Im Jahr 2020 fantasierte ich, dass Fidel Castro (1926-2016) vielleicht Recht hatte und dass wir „nur im Angesicht einer Katastrophe lernen“. Ich habe davon geträumt, dass die Stadt sich ihres Zustands als Parasit bewusst wird, dass sie die Bauernschaft, die sie ernährt, anerkennt, dass wir lernen, sparsam zu leben, auf das Wasser zu achten, verantwortungsvoll zu konsumieren, uns um die Abfälle zu kümmern, die wir erzeugen, unseren Konsum zu reduzieren, Solidarität mit denjenigen zu zeigen, die Hilfe brauchen, uns gesund ernähren, um gesund zu werden, anstatt uns mit Medikamenten zum Nutzen der Krankheitsindustrie vollzustopfen, bescheidener zu sein gegenüber anderen Formen, in denen sich das Leben ausdrückt: Tiere, Pflanzen, Gewässer, Berge beispielsweise. Ich träumte, dass wir erkennen, dass wir Teil des großen Netzes des Lebens sind, um davon auszugehen, dass wir verletzlich, voneinander abhängig – umweltabhängig – nur „ein Faden im großen existenziellen Gewebe“. Ich dachte, wir würden es besser machen.
Ich schätze, was wir erlebt haben, denn wir haben viel gelernt. Und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass wir an Bewusstsein und Verantwortung gewonnen haben, an Respekt vor unserer Mutter Erde, Ñuke Mapu. Denn wir sind Teil der Natur. Ich bitte um Bescheidenheit und Dankbarkeit dafür, dass wir Teil des Ganzen sind!
Saludos desde Patagonia
Adriana Marcus
*Die Autorin ist pensionierte Allgemeinmedizinerin und hat in Argentinien vor allem auf dem Land praktiziert. Die ehemalige Gefangene während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1982) ist Autorin mehrerer Bücher zum Thema ganzheitliche Gesundheit sowie Teil eines selbstverwalteten Buchverlages („Apuntes para la cuidadanía“). Sie lebt in Patagonien.