Kamera im Kinderzimmer

Der folgende Essay entstand 2013, als das sogenannte Sexting in den Medien noch kaum Thema war. Beim Sexting werden Nacktfotos oder Videos per Handy oder Computer an Drittpersonen verschickt – inzwischen auch unter Minderjährigen. So hat die Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich in den vergangenen drei Jahren Strafverfahren gegen 54 Minderjährige eröffnet, 34 Buben und 20 Mädchen. Wie der „Tages-Anzeiger“ Mitte November berichtete, war mehr als die Hälfte der Beschuldigten noch keine 15 Jahre alt …

Brisant ist das Thema auch wegen des Suizids einer 14-jährigen Finnin 2017. Das Mädchen hatte über Monate hinweg Nacktfotos eines heute 30-Jährigen aus Uster (Kanton Zürich) erhalten, der irgendwann dasselbe von ihr verlangte. Als der Mann in Besitz dieser Bilder war, stellte er sie gegen ihren Willen auf ein Porno-Portal und drohte damit, die Fotos an Eltern und Freunde zu schicken, sollte sie den Kontakt abbrechen oder keine weiteren Bilder mehr schicken. Drei Monate nach dem letzten Kontakt nahm sie sich das Leben.

Der Staatsanwalt betonte bei den Gerichtsverhandlungen Anfang November, dass kein Kausalzusammenhang zwischen den Vorwürfen und dem Suizid bestehe; das Mädchen habe bereits zuvor mehrmals Suizidgedanken geäussert. Der Mann wurde am Ende wegen sexueller Nötigung und sexuellen Handlungen mit einer Minderjährigen zu 42 Monaten Haft verurteilt.   

Auf Grund dieser Ereignisse publiziert mutantia.ch den vor fünf Jahren geschriebenen Essay noch einmal. Er zeigt, wie heute das Selbstvertrauen, gerade von jungen Menschen, von den Likes in den sozialen Netzwerke abhängt und wie unsere „digitale Persönlichkeit“ Denken und Handeln im Alltag beeinflussen.

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Essay

Das nicht ganz geheime Tagebuch der Tamara Z.

Seit ein paar Jahren hat Tamara bei sich im Zimmer
eine Kamera installiert. Essay über den Alltag einer 16-Jährigen,
die sich nichts sehnlicher wünscht, als gesehen zu werden.

Für mich ist das Handy wie eine Droge. Ich kann unmöglich ohne sie aus dem Haus. Nur schon der Gedanke daran macht mich unruhig. Vor kurzem habe ich es in der Schule vergessen und konnte danach stundenlang nicht einschlafen. Es war mein erster Abend seit Jahren, an dem ich keinen Kontakt zu meinen Freunden hatte. Ich bin sonst eigentlich rund um die Uhr mit ihnen connected und so war es für mich dann schon hart, als ich plötzlich von der Bildfläche verschwand.

Oft sitzen wir sonst stundenlang zusammen, ohne gross miteinander zu reden. Wir suchen dann interessante Filmchen oder News, die wir untereinander kommentieren. Oder wir schreiben uns über Chat, wie es uns geht und was wir so machen. Mir scheint das einfacher als all das Geplauder. Ausserdem ist es schön still. Wie in der Kirche.

Wenn ich unterwegs bin, ist Sally bei mir im Hosensack, Zuhause lege ich es dann auf den Nachttisch. Meistens stell’ ich auch gleich die Kamera an. Irgenwie beruhigt es mich zu wissen, dass ich gesehen werde. Meine Freunde, aber natürlich auch meine Internet-Freunde, posten Komplimente oder bewerten mich unter Wie-findest-du-mich-heute.de. Das ist eine Webseite, auf der die Leute ihr Zuhause und ihren Alltag zeigen, so etwas wie der Nachfolger von Big Brother. Anfang Nullerjahre war das doch in Mode, nicht? (…)

Zeichnung: Catalina Perez Camargo

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