Im Gespräch bleiben, sowohl Daheim als auch auf der Strasse

„Wer auf Exaktheit besteht, muss isolieren und verliert dabei den Kontext,
aus dem die Relevanz gefolgert werden kann.“
 

Hans-Peter Dürr, Physiker (1929-2014) 

 

Sieben GastautorInnen aus fünf verschiedenen Ländern haben 2021 die Rubrik „Post-Pandemic-Planet“ bereichert und dazu beigetragen, den Blick auf die Welt und ihre Ereignisse zu erweitern. Eine kurze Würdigung seitens der Redaktion. 

10. Januar 2022, Quito. – „Ich weiß, dass ich nicht weiß, was vor sich geht, und das bringt mir inmitten von so viel Ungewissheit etwas Frieden.“ Die Zeilen des argentinischen Künstlers Nicolas Cambas, der als Gastautor für den Post-Pandemic-Planet schrieb, sind erfrischend ehrlich und bringen auf den Punkt, was sich viele nicht auszusprechen trauen: Wir haben auch zwei Jahre nach dem offiziellen Ausbruch der Covid-19-Pandemie kaum Informationen, was genau vor sich geht. Hier und da gibt es Anhaltspunkte, ja vielleicht sogar zwischendurch einen kleinen Strahl Gewissheit. Doch in der Regel ist dessen Halbwertszeit nicht viel länger als jene einer Zeitung der Vorwoche und plötzlich ist alles wieder anders.  

PolitikerInnen verkünden Gewissheiten, im Wissen, dass sich die Bevölkerung danach sehnt. Denn von Tag zu Tag leben und Ungewissheiten aushalten ist anstrengend – vor allem in Gesellschaften, die über Jahrzehnte hinweg wirtschaftlich und politisch relativ stabil funktionierten. Jetzt, da diese Stabilität ins Wanken kommt, suchen die EntscheidungsträgerInnen nach einfachen, schnellen und vermeintlich sicheren Lösungen. Das geht inzwischen soweit, dass vielerorts auf dem Planeten nur noch Genesene oder Geimpfte am öffentlichen Leben teilhaben können. In Österreich soll in drei Wochen gar die allgemeine Impfpflicht eingeführt werden.     

Der Widerstand gegen diese Form von Ausgrenzung hat sich längst formiert, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern. Und Kritik kommt diesbezüglich auch vom österreichisch-ecuadorianischen Anthropologen Johannes M. Waldmüller. In seinem Beitrag Über die innere Besinnung zur neuen Weltarchitektur erinnert er daran, dass eine allgemeine Impfpflicht wohl nicht mit der europäischen Grundrechtecharta vereinbar ist.

 

„Die Umarmung und die gemeinschaftlichen Rituale
müssen mit verstärkter Kraft zurückkehren. Das Überleben sollte nicht
der futuristische Traum derjenigen sein, die den Mars besiedeln wollen.“

Martamaria Lasso, Literaturwissenschaftlerin
Ecuador

 

Ausserdem hält der Akademiker wenig akademisch fest, dass die uns bevorstehenden Veränderungen letztlich eine individuelle und subjektive Aufgabe sind: „Es geht dabei tatsächlich um eine Art Erweckung, um eine Selbstbefreiung, auch um eine Selbstermächtigung. Aber eine, die auf globaler Ebene notwendig ist, dringend notwendig ist. Dazu gehört das rasche Abdrehen von antisozialen Medien und anderer manipulativer Meinungsblasen, aber dazu gehört auch tatsächlich und selbstverzeihend an uns selbst zu arbeiten. Unsere individuellen und kollektiven Traumata zu überwinden, uns in neuer Offenheit und Hingabe zur Natur zu begegnen. Zuzuhören. Uns Zeit zu nehmen. Voneinander zu lernen. Innere Stärke und Frieden zu gewinnen, aber auch eine Art transzendentale Gelassenheit angesichts der Weltlage.“ 

In dieselbe Kerbe schlägt Literatur- und Kommunikationswissenschaftlerin Martamaria Lasso aus der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. „Wir dürfen die Distanz zu anderen nicht verinnerlichen“, schreibt die Nichte des aktuellen Präsidenten Guillermo Lasso in Zuneigung wird zu einem Grundbedürfnis. „Die Umarmung und die gemeinschaftlichen Rituale müssen mit verstärkter Kraft zurückkehren. Das Überleben sollte nicht der futuristische Traum derjenigen sein, die den Mars besiedeln wollen. Der lange Atem der Menschheit auf der Erde müsste aus dem Bewusstsein des Einsseins geschmiedet werden. Und so muss die Idee des Überlebens des Stärkeren neu interpretiert werden. Langlebigkeit wird nicht unbedingt dem Stärksten garantiert, sondern demjenigen, der am meisten kooperiert; demjenigen, der sich für das Gemeinsame einsetzt.“ 

Währenddessen hatte die pensionierte Ärztin Adriana Marcus aus Argentinien die aktuellen Ereignisse in den politischen Kontext der vergangenen Dekaden gestellt und kritisiert die – einmal mehr – bequem gewordene Mittelschicht. In Feminismus & Ökologie: Kämpfe, die das Kapital nicht verdaut schreibt sie: „Es gibt Menschen, die es vorziehen, nicht allzu viel zu fragen, und auf den Staat zu vertrauen. Sie fühlen sich von den Regierenden umsorgt und drücken sie in die Rolle eines Vaters, der ihnen Entscheidungen abnimmt und damit auch die Verantwortung für ihr eigenes Leben. Sie erkennen an, dass sie eigentlich nicht verstehen, worum es geht und lagern die Sorge um ihr Leben deshalb aus. Oder handelt es sich dabei möglicherweise doch um Bequemlichkeit, intellektuelle Faulheit, die Unmöglichkeit, eigene Gedanken zu entwickeln oder gar die Angst, aus der menschlichen Herde ausgeschlossen zu werden?“ 

Zudem bringt die ehemalige Allgemeinmedizinerin und Buchautorin aus Patagonien die seit Jahren weltweit schwelenden Konflikte ins Spiel und fragt: „Ist das Virus der unsichtbare und universelle Feind, der uns verbindet, und der uns die Zivilisationskrise, die Unfähigkeit des vernichtenden und selbstmörderischen neoliberalen Systems und die Krise von 2008 vergessen lässt und uns das Erwachen des Volkes – etwa die Aufstände in Ecuador, Bolivien oder Chile im Oktober 2019, die brutal niedergeschlagen wurden, oder die feministische Welle, die den Planeten erfasst hat – zu verbergen versucht, und damit auch der antipatriarchale, antikapitalistische und antikolonialistische Vorschlag, das Leben und nicht den Markt in den Mittelpunkt zu stellen?“

 

„So sehr die Pandemie uns erlaubt hat den Fokus von eigentlich noch wichtigeren Problemen zu nehmen, hat sie uns auch gezeigt, wie viel in kürzester Zeit möglich ist, wenn wir uns erlauben Grenzen zu hinterfragen.“

Iris Stewart-Frey, Hydrologin
Vereinigte Staaten

 

Apropos Leben: Die Erde, dieser enorme Organismus, der uns seit tausenden Jahren ernährt, ist in der medialen Berichterstattung seit 2019 kaum noch präsent. Hier und da werden zwar die Warnungen besorgter Wissenschaftler verlautbart, aber insgesamt ist der Klimawandel aus der öffentlichen Diskussion verschwunden oder durch Trivialitäten aus den digitalen Netzwerken erdrückt worden. 

Die Hydrologin Iris Stewart-Frey, die unter anderem als Professorin für Umweltwissenschaften an der Santa Clara University in Kalifornien forscht, hat das Thema trotzdem aufgenommen und warnt in Grenzen überwinden für den Umweltschutz: „Es sind die Armen dieser Welt, die heutzutage hauptsächlich die Klimakrise und den Wassermangel zu spüren bekommen, wir anderen können uns jetzt noch herauskaufen – Bollwerke errichten, ausgedehnte Wasserspeicher bauen, Nahrungsmittel einfliegen. Wir selbst haben wenig Motivation zu verzichten für ein bisschen weniger Klimawandel im fernen Jahr 2050. So sehr die Pandemie uns erlaubt hat den Fokus von eigentlich noch wichtigeren Problemen zu nehmen, hat sie uns auch gezeigt, wie viel in kürzester Zeit möglich ist, wenn wir uns erlauben Grenzen zu hinterfragen – diese Grenzen, die Wassereinzugsgebiete und Regenwälder zersplittern und ausbeuten, die Art von Grenzen, die uns daran hindern, Menschen mit einzubeziehen, und jede Grenzen, die wir in unserem eigenen Kopf gebaut haben und die uns daran hindern, das Unmögliche zustande zu bringen.“ 

Hans Rudolf Herren argumentiert ähnlich, wenn er auf die verpasste Chance des letzten UN-Gipfels zu Ernährungsfragen eingeht. Der Pionier in der biologischen Schädlingsbekämpfung und Träger des Alternativen Nobelpreises „Right Livelihood Award“ wird auch nach Jahrzehnten nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Zukunft unseres Ernährungssystems auf der Agrarökologie basiert: „Es hat sich gezeigt“, schreibt der in Kalifornien wohnhafte Schweizer in UN-Gipfel schweigt zu den Ursachen, warum unser Ernährungssystem versagt, „dass die Agrarökologie die Ernteerträge um fast 80 Prozent erhöht, den Zugang der Menschen zu Lebensmitteln verbessert und den Hunger reduziert, die Einkünfte der Bäuerinnen und Bauern steigert und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Überschwemmungen, Dürren und anderen Schocks erhöht. Nichtsdestotrotz ist die Agrarökologie nach wie vor stark unterfinanziert.“ Leider liest man davon viel zu wenig. Woran das wohl liegen mag? 

 

„Es ist offensichtlich, dass sich Julian Assange im Vergleich
zu den meisten von uns in einer extremen Lage befindet. Doch wenn wir
keinen Widerstand leisten – sowohl im Großen wie im Kleinen – werden wir unaufhaltsam in dieselbe Richtung treiben: jene der Unfreiheit.“

Moritz Müller, Journalist
Irland

Der Journalist Moritz Müller geht auf ein anderes Thema ein, das in der Öffentlichkeit ebenfalls kaum noch stattfindet: die Gefangenschaft des australischen Internetaktivisten und Journalisten Julian Assange. Seit über zweieinhalb Jahren sitzt der Mann mittlerweile in einem britischen Gefängnis und soll vergangenen Oktober gar einen kleinen Schlaganfall erlitten haben.

Moritz Müller, Journalist in Irland, war immer wieder live vor Ort, um die Verhandlungen in London zu beobachten. Er kennt den Fall inzwischen aus nächster Nähe. Und er zeichnet ein düsteres Bild in Bezug auf die vermeintlich freie Gesellschaft in westlichen Industriestaaten. „Meines Erachtens spiegelt sich seine Hilflosigkeit (jene von Julian Assange; Anmerkung der Redaktion) heute in der individuellen und gesellschaftlichen Hilflosigkeit wider“, schreibt er in Wie der Fall Assange mit der Überwachung unseres Alltags zusammenhängt. „Es ist offensichtlich, dass sich Julian Assange im Vergleich zu den meisten von uns in einer extremen Lage befindet. Doch wenn wir keinen Widerstand leisten – sowohl im Großen wie im Kleinen – werden wir unaufhaltsam in dieselbe Richtung treiben: jene der Unfreiheit. Deshalb müssen wir unbedingt miteinander im direkten Gespräch bleiben: am Küchentisch, bei der Arbeit, im Park.“ 

Auch fordert Müller die Leserschaft auf, die eigenen Alltagserfahrungen mit dem abzugleichen, was in den Massenmedien stattfindet: „Denn oft lohnt es sich, den Fernseher und das Radio auszuschalten, etwa, wenn einem die Nachrichten zu manisch und repetitiv erscheinen. Wenn wir nicht aufpassen, besteht die Gefahr, dass der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird.“  

Was also bleibt nach diesem komisch-dramatisch-unklaren 2021?

Vielleicht mehr als wir zu denken wagen. Auch deshalb lohnt sich einen Blick in den Essay von Nicolas Cambas, dem nichtwissenden Clown und Coach mit Wohnsitz in Ecuador, der in Vom Nicht-Wissen und anderen Weisheiten schreibt: „Der Weg der Kollektive an Individuen dagegen steht weder beschrieben noch geschrieben. Es liegt an jedem Einzelnen es zu wagen: Davon auszugehen, dass er oder sie nicht weiß, und aus Neugier – die trotz des zunehmenden Verlusts des Unterscheidbaren überlebt hat – zu beschliessen, das Kommende zu entdecken. Und zwar durch Neugier, Kreativität, Spiel und Resilienz. Und natürlich mit der Schlauheit, der Liebe und der Geduld, die notwendig sind, um in kleinen Kollektiven von Individuen, die die Theorien aufgeben und sich auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen, neue unerforschte Wege zu entdecken – während alles, was bisher bekannt war, demontiert wird.“ 

 

PS: Als Zugabe zum Post-Pandemic-Planet 2021 empfehlen wir die Lektüre des Textes von dem Arzt und Autor Thomas Hardtmuth „Das Virom des Menschen – Systembiologische Argumente gegen ein altes Feindbild“. Auf den zwanzig Seiten geht der Mediziner aus Deutschland auf die Tatsache ein, dass sich jeder Mensch aus Billionen von Viren zusammensetzt, und diese ganz unterschiedlich miteinander vernetzt sind – nämlich individuell zugeschnitten auf jeden Organismus. Und er entkräftet die durch die Massenmedien geschürte Angst, wonach Sars-Cov-2 in die Kategorie „Killervirus“ eingestuft werden sollte. Hier ein kurzer Ausschnitt aus seinem Aufsatz:  

(…) Das Narrativ von den Gefahren eines „Killervirus“ lebt ja davon, dass wir unhinterfragt dem Virus ein böswillig handelndes Subjekt zuschreiben und gar nicht bemerken, wie wir uns dabei in den vom militaristischen Zeitgeist geprägten Denkmustern des 19.Jahrhunderts verstricken (die Charité war ein Militärkrankenhaus), aus denen ja das mittlerweile antiquierte „Feindbild“ der Mikroorganismen herstammt. Die Millionen verschiedenen Virusvarianten, von denen wir ständig umgeben sind, sind aber nicht das Ergebnis eines auf pandemische Verbreitung „programmierten“ Aggressors, sondern das sind die unzähligen individuellen Signaturen, die jeder „infizierte“ Mensch seinen Viren mitgegeben hat. Eine auf den ersten Blick sehr ungewohnte Sichtweise, die aber der Wirklichkeit viel näherkommt als all die Hypothesen von immer wieder neuen, tödlichen Varianten. Aufnahme, Modifikation und Weitergabe eines Virus sind wohl eine viel individuellere Angelegenheit, als es durch das generalisierende Ansteckungs- und Pandemie-Theorem vermittelt wird. Es ist im Wesentlichen der Organismus, der entscheidet, was aus einem Virus wird – er „bekämpft“ es nicht, sondern verarbeitet es im Sinne einer Aneignung, wie in einem Lernprozess, die im Immungedächtnis eine Spur hinterlässt. Die Vorstellung, dass wir bei jedem Gespräch mit dem individualisierten Mikrobiom unseres Mitmenschen kontaminiert werden, gibt unserem Immunsystem als „Biologischem Selbst“ eine sozial-sensible Komponente, die ganz neue Denk-Horizonte eröffnet. (…) 

 

Text und Hauptbild: Romano Paganini, Koordinator mutantia.ch