Montag, 4. Oktober 2021, Zürich, Schweiz 

 

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Pandemisch angeschlagen

 

Liebe Katharina, lieber Romano, lieber Claudio
hochverehrte Ritterinnen und Ritter der bäumigen Gestalt
unerschrockene Zorros ohne Augenbinde

 

Ich hoffe, es geht Euch gut und Ihr seid wohlauf und esst und lacht genug. Ich selber bin aus den Ferien zurückgekehrt, zuerst Wandern den Jurarücken hinab, von Porrentruy bis ins Vallée de Joux, herrlich, eine Schweiz, wie ich sie irgendwie noch nie gesehen habe (man müsste öfters ins Welschland), dann noch ein paar Tage bädelen am Lago Maggiore, und endlich wars mal wieder Sommer. Ich bin braungebrannt und ausgeschlafen, aber ich habe ein Problem, das habe ich heute morgen um 8.45 Uhr gemerkt, als ich zum ersten Mal seit drei Wochen wieder an einer Redaktionssitzung teilnahm.

Drei Wochen habe ich sehr zurückhaltend Zeitungen und Newsportale gelesen oder Radio gehört, nicht so wie ein Journalist, sondern eher so wie ein normaler Mensch, einfach ab und zu mal. Ich würde nicht gerade sagen, dass ich völlig newsabstinent gelebt und rein gar nichts mitbekommen habe, aber trotzdem, gelesen habe ich hauptsächlich Bücher, meine Gedanken waren sehr luftig und frei und nicht so schlagzeilengetrieben, wie sie es sonst – als Begleiterscheinung meines Berufs – sehr häufig sind.

Und seit 8.45 Uhr weiss ich, dass damit nun wieder Schluss ist. Weite Teile meiner Tage werden nun wieder bestimmt sein durch Nachrichten, und zwar zu einem einzigen Thema. Ich kann Euch nicht genau sagen, wie oft ich innerhalb einer halben Stunde Begriffe aus der Corona-Wortfamilie gehört habe: Covid, Pandemie, Fallzahlen, Corona-Tests, mobile Impfstation, MassnahmengegnerInnen, Maskenpflicht an Schulen, Impfzertifikat, was weiss ich alles. Ich kann Euch lediglich versichern, dass mir hochgradig unwohl wurde dabei und ich am liebsten gleich wieder in die Ferien gefahren wäre. 

Denn seit mittlerweile eineinhalb Jahren dreht sich gefühlt jeder zweite meiner Radiobeiträge, meiner Interviews oder meiner Online-Artikel um diese Worte. Die letzten Monate hatte es etwas abgenommen, aber jetzt, wo die Schulen wieder starten, die Politiker aus der Sommerlethargie erwachen und die Spitäler wieder mehr Covid-Patienten auf den Intensivstationen melden, jetzt wird es wieder zunehmen. Praktisch jeden Tag habe ich von Berufs wegen Kontakt mit jemandem, der in einer Regierung, einem Parlament, einem Komitee, einem Verband, einem Hochschulgremium oder einfach in einem Chüngelizüchterverein sitzt und dieses befürwortet oder jenes ablehnt, der dieses Szenario vorschlägt oder jenes verwirft, der der Gegenseite Stimmungsmache, Arroganz oder Ignoranz vorwirft, hier Dummheit, dort Obrigkeitshörigkeit, dort Freiheit, hier Diktatur (die Worte werden immer grösser). Das ist auf die Dauer nicht nur sehr langweilig, sondern auch sehr deprimierend, denn dem Virus gehen all diese beeindruckenden Meinungen und Weisheiten unübersehbar am Allerwertesten vorbei. Es tut, was es nun mal tut. 

 

“Post-Pandemic-Planet war für mich ein spannendes Experiment und eine interessante Erfahrung, aber ich fürchte, das ist auf Dauer nichts für mich. Ich habe irgendwie nicht die Kapazitäten,
mich noch zusätzlich an dieser Pandemie abzuarbeiten.”

 

Und ich verstehe ja, dass man als Mensch Meinungen und Weisheiten entwickeln will und muss, um etwas einordnen zu können, das man nicht begreift. Ich verstehe, dass alle ständig über diese Pandemie reden wollen, denn hierzulande hat man so etwas seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, und ich verstehe darum auch, dass ich als Journalist diese Redefreudigkeit abbilden muss. Aber mich stösst die Verbissenheit ab, mit der gestritten wird. Die Unbedingtheit, die Humorlosigkeit, die Rechthaberei, wo ehrlicherweise doch alle Seiten zugeben müssten, dass sie mehr oder weniger im Trüben fischen.

Mich stösst ab, dass nach der Demo der MassnahmenkritikerInnen vor ein paar Wochen in Luzern (die sich in einer Diktatur wähnen ohne zu bedenken, dass eine Diktatur ihre Demo nicht zulassen würde) der Briefkasten des SRF-Radiostudios mit leeren Bierdosen und anderem Müll gefüllt ist. Dass ich mit dem Studioauto über den Bahnhofplatz fahre, vor einem Fussgängerstreifen korrekt abbremse und von einer jungen Frau, die die Strasse überquert, dafür sekundenlang den Stinkefinger gezeigt bekomme – wofür ich nach sehr langem Nachdenken nur eine Erklärung gefunden haben: das Logo des öffentlich-rechtlichen Schweizer Radios und Fernsehens auf der Motorhaube. Das ist doch alles nicht auszuhalten. Aber: Es ist Teil meines Arbeitsalltags, der heute um 8.45 Uhr wieder begonnen hat.

Warum ich Euch das alles erzähle: Ich glaube, ich muss in meinem Gehirn auch noch Platz freihalten für andere Dinge. Ihr habt schon recht, diese Pandemie hat das Potential, vieles zu bewegen, idealerweise zum Guten, schlimmstenfalls zum Schlechten. Sie kann Umbrüche nach sich ziehen, die nicht absehbar sind. Aber sie hat bedingt durch meinen Beruf bereits einen so grossen Teil meiner Gedankenwelt besetzt, dass ich ihr nicht noch mehr Platz geben will.

Während meinen Ferien habe ich gemerkt, wie wohltuend und wie wichtig es ist, dass ich auch andere Dinge denken und fühlen kann. Meinen Corona-Anteil während der Arbeit kann ich schwer reduzieren, aber in meiner freien Zeit habe ich die Möglichkeit dazu. Diese Möglichkeit möchte ich nutzen – und darum an meinen freien Tagen aufs Rennvelo steigen oder ins Café sitzen, in die Bibliothek gehen, Freunde treffen, mich wieder mal an meiner alten Idee versuchen, eine hübsche Kurzgeschichte zu schreiben (ich weiss, früher habe ich immer von einem Buch geredet, ich bin bescheidener und wohl auch realistischer geworden). Ich möchte nicht – und wenn es auch nur einmal im Monat ist – acht Stunden an einem Beitrag für Post-Pandemic-Planet (PPP) sitzen, in dem es schon wieder um Corona geht. 

So, jetzt ist es raus.

Ich glaube, ich möchte das wirklich nicht mehr. Tut mir leid. PPP war für mich ein spannendes Experiment und eine interessante Erfahrung, aber ich fürchte, das ist auf Dauer nichts für mich. Ich habe irgendwie nicht die Kapazitäten, mich noch zusätzlich an dieser Pandemie abzuarbeiten. 

So. Und nun gehe ich schlafen, es ist spät geworden. Eine gute Nacht wünsche ich Euch allen (auch wenn Du, Romano, drüben in Ecuador wohl erst gerade in den Feierabend hineinrutschst).   

 

Abrazo und auf bald

Markus

 

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Montag, 7. Juni 2021, Zürich, Schweiz 

 

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Von der Krux mit der Skepsis und den Meinungsgurgeln

 

Liebe Brieffreundin, liebe Brieffreunde

 

Ich bin etwas spät dran, aber heute war ein so schöner Abend, dass ich erst noch raus musste, die Stimmung geniessen oben im Rieterpark, und ausserdem war da noch der Eichelhäher. Das heisst: War er eben nicht. Sarah sagte, sie habe dort letzthin ein Prachtexemplar von Eichelhäher gesehen, also gingen wir hin, denn ich habe – was mich selber etwas überrascht – in jüngster Zeit eine grosse Sympathie für Eichelhäher entwickelt. Natürlich, sie geben diese seltsamen Geräusche von sich («Rätschen», wie der Vogelkundler sagt), die mich seit ein paar Wochen aus dem Schlaf reissen, bevor der Morgenverkehr dazu die Gelegenheit hat, denn in den Bäumen hinter dem Haus haben sich ein paar dieser gefiederten Freunde eingenistet. Aber diese Farbkombi, dieser hellblaue Streifen im rotbräunlichen Gefieder, der schwarz-weisse hintere Rücken, ich meine: Die Kerle sehen richtig gut aus.

Gut, aber im Rieterpark dann halt nirgends eine Spur von besagtem Eichelhäher. 

Zurück am Computer überlege ich mir, was ich Euch schreiben soll. Als erstes fällt mir ein: Danke für Eure Briefe. Ich habe sie nochmals durchgelesen und mich gefreut an Claudios Glaubenssätzen, an Katharinas Gedanke, dass Corona uns dazu bringen könnte, mitzufühlen mit den Menschen, denen es auf einmal den Boden so richtig unter den Füssen wegzieht, etwa durch einen Krieg, den sie nicht angezettelt haben. Und ich bin erschauert, als Romano schilderte, wie Fahrgästen in ecuadorianischen Busbahnhöfen automatisch die Körpertemperatur gemessen wird. Von vielen neuen Dingen und Gedanken habe ich dank Euch gelesen und erfahren, es ist beinahe, als verfüge man über sein ganz persönliches Korrespondentennetz.

Nun ja, ich selber habe leider das Gefühl, ich sei ein wenig zum Simpel geworden in letzter Zeit; in mir macht sich vor allem ein Gefühl nachlassender Spannung breit. Es atmet sich wieder freier seit ein paar Wochen, die Menschen scheinen mir gelöster, Schabernack und Leichtsinn liegen in der Luft. Ich war im Restaurant essen und auf ein paar Drinks in der Langstrasse, ich habe in einem Café eine gedruckte Zeitung gelesen, habe Menschen umarmt, Radiointerviews geführt ohne Maske und ohne Verlängerungsstange für das Mikrofon, damit der Mindestabstand eingehalten werden konnte. Wie viel besser fühlt sich das Leben wieder an, wie viel lebendiger ist die Welt um mich herum! 

Dass die Zahl der Menschen, die an Corona erkranken oder daran sterben, so stark sinkt, liegt natürlich – man muss es sagen, Romano – an der Impfung. Und ich will hier jetzt auch nicht die grosse Impfdebatte lostreten, denn eine Impfung ist immer ein Eingriff in den Körper eines gesunden Menschen, und darum soll jeder Mensch selber entscheiden, ob er sich diesen Schuss geben will oder nicht (obwohl ich mich frage, ob auch Impfskeptiker angesichts einer weltumspannenden Pandemie nicht moralisch verpflichtet wären, sich zumindest zu überlegen, ob eine Impfung nicht auch ein solidarischer Beitrag zur Bekämpfung ebendieser Pandemie sein könnte; aber da sind wir bei einer ethischen Frage, die mich im Moment gerade überfordert). 

Da Du, Romano, in Deinem Schreiben mir (und Claudio) implizit aber vorwirfst, von der Pharmaindustrie gekauft worden zu sein (ich kann mir nicht helfen: so lese ich Deine Zeilen – bin ich überempfindlich?), möchte ich dazu ein paar Gedanken entgegnen.

Romano fragt: «Müssten wir als JournalistInnen diese Entwicklung [die weltweite Impfkampagne; «Novartis & Co», die «mit unseren Krankheiten ungesund viel Geld» verdienen] nicht kritischer begleiten?» Ja: Ich finde kritische Begleitung wichtig, absolut. Skepsis gegenüber Experten, Meinungsführern, Institutionen, Unternehmen. Ganz zu Beginn der Journalistenausbildung hörte ich den Satz «Glauben Sie nichts, halten Sie alles für möglich» – ich habe ihn zu einem der wichtigsten Lehrsätze meines Lebens erkoren, anwendbar auf alle Lebensbereiche.

Ich finde aber, ein Skeptiker macht seinen Job nur dann gut, wenn er gelegentlich auch an seiner Skepsis zweifelt. 

 

Aber ja, die Frage ist halt, ob die Menschen noch Lust haben, sich mit Grundsätzlichem zu beschäftigen, wenn das alles vorbei ist. Oder ob dann einfach alle nach Mallorca fliegen.

 

Was ich sagen will: Ja, die Pharmaindustrie hat nicht in jeder Hinsicht den besten Ruf. Ich kann mir daraus nun ein perfektes Feindbild basteln und es kultivieren, es wird mein Leben ungemein erleichtern, weil Schubladen sehr praktisch sind in einer komplizierten Welt. Nur bekomme ich dann nicht mit, dass «die Industrie» kein monolithischer Block ist. Dass es innerhalb «der Industrie» seriöse Unternehmen oder Abteilungen gibt, die natürlich zwar Geld verdienen wollen, ansonsten aber durchaus nicht böse sind (oder zumindest nicht ausschliesslich) – sondern bestückt mit Leuten, die ernsthafte Forschung betreiben, und dass dabei hin und wieder auch Dinge herauskommen, von denen eine grosse Zahl von Menschen profitiert. 

Bei den Covid-Impfungen ist das aus meiner Sicht so. Klar, Skepsis: Die Entwicklung der Impfstoffe ging unerwartet schnell, das kann, wie man von anderen Dingen weiss, auf Unfertigkeit hindeuten, auf Pfusch gar. Nun wurden aber seit einem halben Jahr rund zwei Milliarden Dosen verimpft, und es zeigt sich: Sie retten Menschenleben, unzählige. Und das ist eine Tatsache, angesichts der ich finde, Skeptiker sollten sich jetzt zumindest fragen, wie sie ihre Skepsis begründen. Und ob die absolute Einteilung in gut und schlecht eine taugliche Optik ist für eine Welt, in der die Dinge nun einmal vertrackt und ambivalent sind. Ich will damit nicht sagen, dass wir den Pharmafirmen blind vertrauen sollen. Nur, dass mir blindes Misstrauen auch nirgendwohin zu führen scheint.

Und im Grunde glaube ich, dass ich weiss, wo Du hinwillst mit Deiner Skepsis, Romano, und ich bin sogar mit Dir einverstanden: zu den grundsätzlichen Fragen. Warum hat die Menschheit jetzt eigentlich dieses Virus am Hals? Liegt es nicht daran, dass sie zu sehr in die Natur eingreift? Dass sie in Regionen vordringt, in denen sie nichts verloren hat? Ja, diese Fragen sollten die Menschen sich stellen, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft. Aber: Muss dazu nicht erst mal die Pandemie abebben? In Delhi soll den Krematorien das Brennholz ausgegangen sein; mir scheint, das ist ein schlechter Moment für Fragen, die darüber hinausgehen, wie man noch mehr Todesopfer verhindern kann. 

Aber ja, die Frage ist halt, ob die Menschen noch Lust haben, sich mit Grundsätzlichem zu beschäftigen, wenn das alles vorbei ist. Oder ob dann einfach alle nach Mallorca fliegen.

Ich merke gerade, dass ich keine Impfdebatte lostreten wollte und es gleichwohl getan habe (sorry), und ich frage mich einmal mehr, was die letzten eineinhalb Jahre mit mir und meinem Denken gemacht haben. Die absolut unaushaltbare Omnipräsenz eines einzigen Themas, dem ich nicht entkam und manchmal nicht einmal entkommen wollte. Die tausendfach wiedergekäuten Fragen, die diffusen Antworten darauf. Das ganze Meinungskonzert auf allen Kanälen, und manchmal, fürchte ich, habe ich dort auch mitgetan, nicht so laut vielleicht wie andere, aber wohl ebenso selbstgefällig. 

Und dann finde ich eine Stelle in Julie Zehs neuem Buch «Über Menschen» (das ich Euch sehr ans Herz lege). Sie hat den ersten Lockdown von vergangenem Jahr elegant eingewoben in ihre Geschichte der Landflucht einer jungen Städterin, und in einer Szene trifft diese sich mit ihrem Vater und ihrem Bruder, die beide sehr genau wissen, wie man angesichts der Pandemie zu verfahren habe (wie übrigens auch ihr Ex). Und sie fragt sich, ob dieses Hardlinergetue «eine Entscheidungsschlacht gegen den Kontrollverlust» sei, von der «nicht mehr ganz junge Männer» besonders heftig erfasst würden: «Eine Kriegserklärung an die impertinente Art der Zukunft, einen ständig älter zu machen und ansonsten zu veranstalten, was sie will». Das fand ich einen lustigen Gedanken, aber irgendwie auch einen betrüblichen. Männer, die ewigen Meinungsgurgeln (ist das so, Katharina?).

Ich geh jetzt mal ins Bett. Morgen wecken mich vielleicht wieder die Eichelhäher, die sind immer unheimlich früh dran. 

 

Seid gegrüsst!

Markus

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Montag, 10. Mai 2021, Zürich, Schweiz

 

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In Ordnung, Freunde, ich habe eine Utopie – und was jetzt?

 

Meine sehr geschätzten postpandemischen Brieffreundinnen und Brieffreunde von nah und fern

 

Mir ist ein Satz aus Claudios Brief nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er hat Churchill zitiert mit dem Satz «Never waste a good crisis» (ein wahrhaftig unerschöpflicher Zitate-Lieferant, dieser Churchill – ob er all diese Dinge wohl wirklich gesagt hat, die man ihm in den Mund legt?) und sich dann gefragt: Habe ich nun wieder eine vergeudet?
Diese Frage stelle ich mir auch, und zwar seit ich in meinem letzten Brief davon geschrieben habe, dass ich hauptsächlich damit beschäftigt sei, die Welt während der Krise verstehen zu wollen und daher nicht dazu komme, mir eine Welt nach der Krise vorzustellen. Vor allem stelle ich sie mir aber seit dem Brief von Romano, in dem er mich – sagen wir – ermuntert hat, doch auch mal jenen Gedanken Raum zu geben, die uns «ein bisschen Luft verschaffen». Ich frage mich also: Bin ich gerade dabei, eine Krise zu vergeuden, weil ich zu sehr in der Gegenwart stecken bleibe, statt nach vorne zu blicken? 

Denn Romano hat recht, in der Krise zu verharren bringt uns auch nicht weiter, man sollte schauen, wie man wieder rauskommt. Da könnten ein paar Zukunftsideen nicht schaden. Ein paar Utopien. Ein bisschen von dem, was ich in meinem letzten Brief als diesen «revolutionären Furor» bezeichnet habe, den ich aus den Schreiben von Euch dreien herausspüre, und aus meinen nicht. 

Sollte ich vielleicht nicht doch auch noch versuchen, mir eine konkrete postpandemische Welt zu denken, solange die Krise anhält? Die Chance der Krise nutzen, Mr. Churchill?

Ich will es versuchen, und der Moment dazu ist gut, denn ich habe ein paar Tage frei, und regnen tut es auch, bestes Nachdenkwetter. Ich setze mich an den Computer, ich denke nach, ich schweife ab und strolche durch das Internet (der Todesstoss für jeden aufkeimenden vernünftigen Gedanken). Ich finde Witze über die Trennung von Melinda und Bill Gates, einer lautet: Wer von beiden übernimmt nun die Weltherrschaft?

Und da fällt mir ein Wort ein: Kooperation. Das gefällt mir. Das könnte als Utopie taugen: Eine Menschheit, die kooperativ unterwegs ist.

Das ist nicht einmal allzu vermessen. Kooperation ist im menschlichen Wesen angelegt, wir arbeiten in so vielen Situationen zusammen, dass wir es gar nicht mehr merken, so selbstverständlich ist es. Und doch gibt es aber Bereiche, in denen die Kooperation versagt. Der Klimawandel zum Beispiel. Die meisten Menschen sehen zwar ein, dass es auf dem Planeten ungemütlich wird, wenn wir ihn weiterhin so fröhlich verpesten wie bis anhin. Aber wahrscheinlich führt die Angst vor Trittbrettfahrern dazu, dass wir nur sehr zaghaft versuchen, das Steuer herumzureissen – vielleicht wollen die meisten dieses Steuer sogar herumreissen, nur fürchten sie, dass sie am Schluss die Einzigen und damit die Dummen sind, und die anderen trotz gegenteiliger Beteuerung weiterhin im SUV durch die Agglomerationswüste kurven, für Weihnachtseinkäufe nach New York jetten und den Ersatz für die alte Dreckschleuder von Ölheizung nochmals um ein paar Jährchen hinausschieben. 

 

Darum machen sie mich misstrauisch, diese ganzen grossen Würfe,
diese Visionen, diese Welterklärungen und Rundumschläge. Muss nicht zwingend
anderer Leute Zähne einschlagen, wer seine Utopie verwirklichen will?

 

Gut, Kooperation also. Der Gedanke dreht weiter in meinem Kopf: Kooperation setzt Vertrauen voraus, Vertrauen in die guten Absichten des Gegenübers, und um Vertrauen aufzubringen, braucht es Mut. Mut allerdings, den aufzubringen sich lohnen würde – denn könnte uns nicht die aktuelle Corona-Krise lehren, dass Kooperation alles einfacher macht? Die wohlhabenden Länder des Nordens können ihre Bevölkerung noch lange durchimpfen, sie werden die Krankheit nicht los, solange nicht auch die Menschen im globalen Süden sich genügend davor schützen können. Der gegenwärtige Impfnationalismus ist das Gegenteil von Kooperation, genau wie das Beharren der Pharmariesen auf den Patentschutz, damit Schwellenländer die begehrten Impfstoffe nicht selber herstellen können. Ein verbohrtes Beharren auf kurzfristige Vorteile für sich selber ist das, nichts weiter, ohne zu beachten, dass der Nutzen kooperativen Verhaltens letztlich viel grösser wäre. Dass eine kooperative Welt eine bessere wäre.

Also gut, so sitze ich hier und blicke auf den Bildschirm meines Laptops, und ich formuliere eine Utopie für einen postpandemischen Planeten: Eine Menschheit ohne Stammesdenken, dafür mit mehr Mut zur Kooperation. 

Und jetzt? Kein Applaus brandet auf, keine Unterwäsche fliegt mir entgegen, nichts, nicht einmal anerkennendes Gemurmel hebt an im Saal. Ist aber auch kein Wunder. Denn: Was ist neu an diesem Gedanken? Was ist daran so verflucht klug? Nichts, meine Güte. Mut zur Kooperation, kein Stammesdenken – solche Dinge stehen in abgewandelter Form auch bereits tausendfach auf Adventskalendern und in schlecht gestalteten Büchern mit nachdenklichen Sprüchen, die in «lustiger» Schrift über Nahaufnahmen von Orchideen gedruckt sind, und wahrscheinlich hat bereits auch Sitting Bull oder Mahatma Gandhi sowas ähnliches gesagt (oder Churchill).

Und damit, liebe postpandemische Kameradinnen und Kameraden, sind wir, glaube ich, bei der Erklärung angelangt, warum ich mich so schwer tue, Utopien zu formulieren (oder das, was ich für Utopien halte).

Erstens: dieses ganze Pathos. Diese kitschigen Formulierungen. Dieses Triumphgeheul über Binsenwahrheiten. Natürlich ist Liebe gut und Egoismus schlecht. Es ist wie mit «Imagine» von John Lennon: Ich mag den Song, ich mag die Haltung dahinter, ich könnte jedes Wort im Text unterschreiben – aber, es tut mir leid, ich mag das Lied nicht mehr hören. 

Zweitens: das Kleingedruckte. Ein Beispiel: Ihr habts gelesen, ich habe mich vor ein paar Abschnitten als Anhänger der Covid-Impfung geoutet. Ich bin absolut überzeugt, dass dies der Weg ist, um aus der Pandemie herauszukommen. Selbstfürsorge, gutes Immunsystem, alles schön und gut – aber das Virus schnappt sich, wen es erwischt, und jene, die angesteckt werden, können meistens nichts dafür und haben sehr oft nicht mehr viel zu lachen. Die Impfung ist ein Weg, um Menschen zu schützen, wie dies Impfungen auch bei Gelbfieber oder Hepatitis tun. Dass mehrere Covid-Impfstoffe so schnell entwickelt wurden, finde ich grossartig – aber ich weiss, dass viele Menschen da anderer Meinung sind. Ich glaube, auch in dieser Briefrunde hier. Das heisst: Der Kooperationsgedanke, der mir punkto Covid-Impfung so sinnvoll erscheint, ist in den Augen anderer Menschen völlig hanebüchen. Was fangen wir jetzt also an mit meiner schönen Utopie?

Darum machen sie mich misstrauisch, diese ganzen grossen Würfe, diese Visionen, diese Welterklärungen und Rundumschläge. Muss nicht zwingend anderer Leute Zähne einschlagen, wer seine Utopie verwirklichen will? Das ist nichts für mich. Und so vergeude ich die Krise und verzichte auf die Utopie, auch wenn mir nicht ganz wohl ist dabei, denn: Was ist die Alternative zur Utopie? Der Stillstand, im schlechtesten Fall. Und im besten Fall: das kooperative Durchwursteln, die Politik der kleinen, durch Kompromisse abgestützten Schritte nach vorn. Ist halt schon was anderes als eine hübsche kleine Utopie. Vielleicht hilft beim Durchwursteln aber John Lennons «Imagine» als Richtschnur. Wir müssen uns den Song ja nicht die ganze Zeit anhören, den Text kennen wir schliesslich.

So. Es gäbe ein paar andere Punkte, auf die ich gerne eingegangen wäre, zum Beispiel auf den konstruktiven Journalismus. Ich finde das Konzept nämlich interessant. Aber vielleicht mehr dazu im nächsten Brief. 

Aber das mit den Utopien, das würde mich interessieren. Ich habe mir Eure bisherigen Briefe nochmals durchgelesen. Wie gesagt, ich lese darin eine Art revolutionären Furor – aber habt Ihr revolutionären Rauschebärte eine konkrete postpandemische Utopie formuliert? Ich glaube, ich habe keine gefunden. Habe ich sie überlesen? Was glaubt Ihr, sollte die Welt tun, damit sie die Krise nicht vergeudet?

Liebe Grüsse übers Meer, die Alpen und die Limmat – gebt Euch Acht und bleibt frohgemut

Markus

Montag, 12. April 2021, Zürich, Schweiz

 

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Ich habe postpandemisch noch Luft nach oben

 

 

 

Liebe Postpandemikerin, liebe Postpandemiker

Liebe Freundinnen und Freunde jenseits des Ozeans, der Berge und der Limmat

 

Es ist mir ein dringendes Bedürfnis, auf das Sauerteigbrot zurückzukommen. Immerhin ist dieses knusprige Gebäck einem Wiedergänger gleich durch alle Eure Briefe gehuscht, seit ich Euch vor einem Monat schrieb, hier in Zürich sei es bei Hipstern der neuste Shit, sich selber Sauerteigbrot zu backen. 

Ich glaube, es gab ein Missverständnis, und darum möchte ich klarstellen: Ich habe nichts gegen selbst gebackenes Sauerteigbrot. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Leute Dinge selber machen, Brot, Bier, Möbel, was weiss ich, wenn sie Gemüse anbauen, wenn sie stricken, töpfern, gärtnern. Im Gegenteil. Alles schöne Tätigkeiten.

Ich kritisiere nur eine Haltung, die ich zu beobachten glaube bei einer Vielzahl von Menschen, die sich neuerdings solchem Tun hingeben. Es findet eine merkwürdige Überhöhung statt. Man bäckt sich das Brot nicht nur aus Freude und um es danach aufzuessen, sondern auch, um in Gesprächen und den sozialen Medien signalisieren zu können: Ich habe begriffen, wie das gute Leben funktioniert. Wobei stets ein leichtes Bedauern darüber mitzuschwingen scheint, dass es offenbar noch immer Leute gibt, die diesen Grad der Erleuchtung nicht erreicht haben, und in einem zweiten Schritt auch der Schluss: Was soll ich mich mit dieser ganzen rätselhaften und zuweilen unangenehmen Welt befassen, wenn ich mir doch auch einfach mein Brot selber backen kann?

Nicht das Backen kritisiere ich also, sondern den dadurch symbolisierten Rückzug ins Schneckenhaus, und hier sind wir beim zweiten Missverständnis, das ich ausräumen möchte, Katharina: Mit Schneckenhaus meine ich nicht die heimische Terrasse, von der aus man lieber die untergehende Sonne bestaunt, statt aufs Dorffest zu gehen. Auf Dorf- wie auch auf anderen Festen tummeln sich häufig Holzköpfe in grosser Zahl, da kann ein ordentlicher Sonnenuntergang erkenntnisreicher ausfallen als eine mehrtägige Diskussionsrunde mit diesen Leuten. Ausserdem sind manche Menschen nun mal lieber für sich statt mitten im Getümmel, auch ich kenne – bei aller Geselligkeit und Sehnsucht nach einem Feierabendbier im «Si o No» – diese Momente rasender Stummheits- und Einsamkeitswünsche (frag mal meine Frau, oder besser: tu es nicht). Was ich sagen will: Das Schneckenhaus ist eine geistige Angelegenheit. Man kann in aller Abgeschiedenheit leben und sich verstehen als Teil der Welt, oder mitten in Zürichs Hipsterquartier und sich verabschiedet haben von allem, ausser vom Sauerteigbrot. Diesem Ausklinken aus der Welt galt meine Kritik, nicht dem Auslassen von Dorffesten.

Und natürlich, jeder soll leben, wie er will. Irgendwo habe ich den Text einer Hirnforscherin gelesen, sie sagt, jeder Mensch sei mehr oder weniger felsenfest davon überzeugt, seine Art, die Welt zu sehen, sei die einzig richtige. Das macht alles natürlich nicht einfacher. Dennoch bleibe ich dabei: Das Schneckenhaus, der vollständige Rückzug ins Private, ist keine Lösung.

 

“Ich höre von Menschen, die gebrochen haben mit Freunden, weil sie ihre Ansichten zur Pandemie unerträglich finden. Früher waren sie sich vielleicht nicht immer einig in politischen oder gesellschaftlichen Fragen, aber sie haben diskutiert, vielleicht gestritten, dann das Thema
gewechselt und sich daran erinnert, dass sie sich schliesslich und endlich doch einfach mögen.”

 

Und ich höre Euch rufen: Schön und gut, Markus, aber wir sind «Post Pandemic Planet» hier, hör endlich auf mit deinen Sauerteigbroten und Schneckenhäusern. Ihr habt ja Recht. Aber ich habe ein Problem. Nämlich, dass ich es noch immer nicht geschafft habe, so richtig postpandemisch drauf zu sein. Ich bin immer noch mitten drin. Mich beschäftigt weniger, was nach dieser seltsamen Zeit kommt oder kommen müsste, als der Umgang der Menschen mit ihresgleichen während dieser Zeit. Mich beschäftigt, dass ich den Eindruck habe, Zeuge einer kompletten geistigen Vernagelung zu sein.

Wahrscheinlich gab es erste Anzeichen dazu schon früher, aber ich finde, die Pandemie hat das alles befeuert. Ich höre von Menschen, die gebrochen haben mit Freunden, weil sie ihre Ansichten zur Pandemie unerträglich finden. Früher waren sie sich vielleicht nicht immer einig in politischen oder gesellschaftlichen Fragen, aber sie haben diskutiert, vielleicht gestritten, dann das Thema gewechselt und sich daran erinnert, dass sie sich schliesslich und endlich doch einfach mögen – heute beschimpfen sie sich als «Schaf» und «Opfer der Lügenmedien», oder aber als «Covidiot» und «Verschwörungstheoretiker». Der Ton ist gehässig und unversöhnlich, es wird viel gebrüllt und wenig zugehört, sehr vieles wird auch bessergewusst und schonimmergewusst, und mir scheint, viele ziehen sich in ihr Lager zurück und brechen die Brücken ins andere Lager ab. Keine gute Voraussetzung für unsere Gesellschaften, fürchte ich, denn wir erinnern uns: Nach dieser Pandemie wird es auf unserem Planeten noch ein, zwei andere Probleme anzupacken geben, und einander anzubrüllen dürfte da nicht reichen.

Und dann gibt es auch noch die Visionäre, die so gerne Interviews geben. Sie bieten Weltuntergänge an und Neuanfänge, das Ende des Kapitalismus hier, der neue Mensch da, Zeitenwenden allüberall, Läuterung, Umdenken. Und dann auch wieder Stimmen, die sagen: Nichts wird sich ändern, wie auch, der Mensch bleibt Mensch, ein fehlerhaftes Wesen, hineingeworfen in eine fehlerhafte Welt, fähig bloss zu kleinen, unsicheren Schritten des Fortschritts. Und ich frage mich: Woher wollen diese Leute das alles wissen? Und warum erzählen sie diese Dinge im Brustton der Überzeugung? Ist das alles eitles Imponiergehabe und pures Wunschdenken, oder sind das Gedanken, die die ersten Schritte in die Zukunft sind?

An solchen Dingen grüble ich die letzten Wochen herum, werte Brieffreundin und werte Brieffreunde. Ich bin mit unseren merkwürdigen Zeiten mehr beschäftigt als mit Gedanken an die Zeiten danach. Aus Euren Briefen spüre ich eine Art revolutionären Furor, den ich nicht aufbringe. Vielleicht, weil ich die Gegenwart gerade zu wenig verstehe, um mir Gedanken über die Zukunft machen zu können, vielleicht auch, weil ich zum Revolutionär grundsätzlich wenig tauge. Oder sagen wir es für den Moment mal so: Ich habe postpandemisch wohl noch Luft nach oben.

Das «Si o No» werde ich übrigens nicht besetzen, Romano. Ich kenne den Besitzer nicht, ich dringe nicht in ein Lokal ein, das mir nicht gehört (ich sagte ja: geringe Begabung zum Revolutionär). Ich habe darüber nachgedacht, ich glaube, ich bin ein gesetzestreuer Mensch. Und das Gesetz sagt im Moment: Das «Si o No» bleibt geschlossen. Ich bedaure das, kann es aber nachvollziehen. Natürlich kenne ich Bertolt Brechts «Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht». Die Rechtslage – zumindest in der Schweiz – scheint mir aber so, dass wir weit entfernt sind von einer despotischen Gesetzgebung. Darum finde ich, man sollte sich solche Sätze aufsparen für Gelegenheiten, für die sie sich wirklich eignen.

Und damit verbleibe ich mit allerbesten Grüssen hinüber nach Ecuador, ins Südtirol und nach Wipkingen. Haltet Sorge zu Euch, bleibt munter, backt das eine oder andere Sauerteigbrot.

 

Love

Markus

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Montag, 15. März 2021, Zürich, Schweiz

 

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Blauer Frühlingshimmel alleine ist auch noch keine Lösung

 

 

Lieber Romano, alter Hippie

Liebe Postpandemikerinnen und Postpandemiker

 

Vielen Dank für deine liebestrunkenen Zeilen, Romano. Schön, von dir zu hören! Deine Beschreibung der Aussicht aufs Tumbaco-Tal hat mich neugierig gemacht, ich bin darum per Google Maps kurz rüber zu dir nach Ecuador gereist und habe dieses gelbe Streetview-Männchen ein bisschen durch die Strassen dort spazieren lassen. Leider habe ich keine Ahnung, wo du ungefähr wohnst, und so habe ich mich virtuell hoffnungslos verlaufen. Es mag Vorteile haben, wenn man sich übers Internet das andere Ende der Welt ins Wohnzimmer holen kann, die Frage ist halt einfach: Wen fragst du nach dem Weg, wenn du von ihm abgekommen bist?

An meiner Strasse in Zürich parkieren auch ziemlich viele Autos, ohne beschlagene Fenster jedoch, und soweit ich sehen kann, findet darin nichts statt, was das Sittlichkeitsempfinden der zwinglianischen Bürgerschaft verletzen könnte. Doch Frühlingserwachen herrscht auch hier. Vor gut drei Wochen begann es wärmer zu werden, und die Menschen blühten auf: Mir schien, als seien sie auf einmal freundlicher und entspannter und bewegten sich geschmeidiger. Als funkle in ihren Augen ein freudiger Glanz, als strahle ihr Lachen durch die hellblaue Hygiene-Einwegmaske hindurch.

Und ich strahle mit. Du kennst mich, Winter war noch nie meine Stärke, und dieser Winter hatte es in sich. Die Kälte im Januar, die ständige Dunkelheit auch tagsüber, weil kaum jemals die Sonne schien. Und dann waren all diese Dinge nicht möglich, die mir gewöhnlich über die Winter hinweghelfen: Freunde zum Fondue einladen, mal ein Feierabendbier im «Si o No», vielleicht gar wieder mal eine ausufernde nächtliche Tour durch viel zu volle und viel zu laute Bars, an einem trüben Sonntagnachmittag ins Kino, ins Museum. Ging alles nicht. Die sozialen Höhepunkte bestanden aus Spaziergängen mit anderen Menschen bei null Grad und der Entdeckung, dass die Hygienemaske das Gesicht angenehm wärmt, auch wenn natürlich die dauerbeschlagenen Brillengläser etwas nerven. Es war ein bedrückender Winter ohne Leichtigkeit, ohne Witz, ohne Charme. Monate, die sich anfühlten wie ein nie enden wollender garstiger Wintertag. Und darum strahle ich, jetzt, wo es wärmer wird, ich strahle vor Zuversicht.

Wobei ich mich manchmal frage: Zuversicht? Was ändert der blaue Zürcher Frühlingshimmel denn an der ganzen Situation, in der die Welt steckt? Klar, sage ich mir dann, er ändert nichts, er nährt einfach Hoffnung. Um mich gleich danach zu zu fragen: Hoffnung worauf? 

 

“Viele Leute sagen, sie wollen zurück zur Normalität, doch frage ich mich, was sie damit meinen.
Man wird nicht so tun können, als habe es keine Pandemie gegeben. Selbst in der Schweiz,
wo es immer heisst, es sei genug Geld da, um damit alle Probleme zuzupflastern,
tun sich Gräben auf, die wohl lange zu spüren sein werden.”

 

Der erste Teil der Antwort ist einfach: Hoffnung, dass es bald vorbei ist. Dass Covid-19 seinen Schrecken verliert, dank der Impfung, dank anderen medizinischen Fortschritten, dank einem Umgang, den wir mit dem Virus hoffentlich finden, und der es uns ermöglicht, mit ihm zu leben, nicht gerade in Eintracht, aber doch wenigstens mit einer gewissen Gelassenheit. Und: dass das gesellschaftliche Leben zurückkehrt, die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit. Dass all diese behördlichen Restriktionen aufhören – denn ich halte sie im Ausmass, in dem sie in der Schweiz gelten, zwar für angebracht und notwendig, doch ich spüre, wie meine Geduld schwindet, sie noch lange ertragen zu müssen.

Der zweite Teil der Antwort ist schwieriger. Denn: Wie wird das Leben aussehen, wenn alles vorbei ist? Wie wird die Welt aussehen? Und was machen wir damit?

Viele Leute sagen, sie wollen zurück zur Normalität, doch frage ich mich, was sie damit meinen. Man wird nicht so tun können, als habe es keine Pandemie gegeben. Selbst in der Schweiz, wo es immer heisst, es sei genug Geld da, um damit alle Probleme zuzupflastern, tun sich Gräben auf, die wohl lange zu spüren sein werden: Ein grosser Teil der Jugend zum Beispiel – vor allem jener, der aus ohnehin schon benachteiligten Familien stammt – wird sich mit einem Bildungsdefizit herumschlagen müssen, das er den Corona-Massnahmen verdankt, wird den Sprung ins Berufsleben später und schlechter schaffen, und vielleicht gar nie so recht. In Frankreich sind acht Millionen Menschen – darunter viele Studierende – auf Lebensmittelhilfe angewiesen. In Italien leben heute eine Million Menschen mehr in absoluter Armut als noch vor einem Jahr. Zurück zur Normalität, das wird kein Spaziergang.

Und dann gibt es Leute die sagen: Welche Normalität überhaupt? Und warum sollen wir zurück wollen zu einer Normalität, die zumindest in der westlichen Welt zu einem wesentlichen Teil darin bestand, auf Kosten des Planeten über unsere Verhältnisse zu leben? Und das stimmt, finde ich. Zurückgehen ist keine Option, schon alleine deswegen, weil das einfach nie klappt mit diesen Zeitreisen zurück in die Vergangenheit. Also vorwärts, einverstanden. Aber wohin genau? Die Pandemie sei eine Chance, ist zuweilen zu lesen, nebst anderen euphorischen Verkündigungen. Neue Denk- und Verhaltensweisen könnten sich nun durchsetzen, an einem Wendepunkt der Geschichte seien wir angelangt. Vielleicht stimmt das alles. Aber vielleicht ist es auch einfach Wunschdenken von Leuten, die es furchtbar aufregend fänden, einen historisch bedeutsamen Moment mitzuerleben, während sich wirkliche Zäsuren so leise vollziehen, dass sie von den meisten Menschen unbemerkt bleiben – plötzlich sind ihre Auswirkungen da, und erst Jahre später begreifen wir, wann das eigentlich begonnen hat. 

Ja, ich hoffe, dass wir die Pandemie bald geschafft haben. Und dann? Mein Feierabendbier im «Si o No» werde ich in ein paar Wochen wahrscheinlich wieder haben. Alles andere erscheint mir eher wackelig.

Du merkst es Romano: In mir blüht die prächtigste Ratlosigkeit. Und ja, auch Müdigkeit ist da, genau wie bei dir. Müdigkeit von dem Virus, dem Kriegsgerassel, von den Nachrichten. Du hast schon recht, wir Journalistinnen und Journalisten spielen eine merkwürdige Rolle in dieser Krise; wenn sie einmal überstanden ist, wird man analysieren müssen, was wir da eigentlich getan haben. Die Informationspflicht zu erfüllen ist das Eine – aber wie viel im Grunde nicht wirklich Relevantes haben wir verbreitet? Wie viele der Artikel und Beiträge über das Auf und Ab der Ansteckungen, den Mangel an Beatmungsgeräten, die geöffneten Terrassen in Skigebieten oder die schleppend anlaufende Impfkampagne brachten den Menschen tatsächlich einen Erkenntnisgewinn, und nicht bloss ein Gefühl der Hilflosigkeit, gekrönt durch eine gelegentliche Panikattacke? 

Also gut. Was tun? Du schlägst Liebe vor, und das klingt gut. Wobei, ehrlich gesagt, auch ein bisschen arg simpel und nach Woodstock. Ist halt auch ein grosses Wort, Liebe. Aber ich nehme an, dein Begriff von Liebe ist auch mit Worten wie Wohlgesonnenheit oder Wohlwollen umschreibbar, und da bin ich bei dir. Wohlwollen anderen Menschen gegenüber hilft generell, auch bei solchen, mit denen man eigentlich nicht allzuviel zu tun haben möchte. Da geht man sich bei Meinungsverschiedenheiten wenigstens nicht sofort an die Gurgel. Man muss ja nicht gleich zerfliessen vor Liebe.

 

“Hier ist in linksurbanen Kreisen der neuste Shit, selber Sauerteigbrot zu backen, Bier zu brauen, im Hochbeet Salat zu pflanzen und sich allerhand Geschirr zu töpfern. Das ist ja eigentlich auch völlig in Ordnung. Nur habe ich den Eindruck, dass damit häufig ein völliger Rückzug ins Private einhergeht.”

 

Und dann schreibst du von den Dingen, auf die du dich konzentrierst, um den ganzen Wahnsinn der Welt etwas von dir fernzuhalten: Kampfkunst, die nachbarschaftlichen Beziehungen, der Garten, gemeinsame Mahlzeiten. Selbstfürsorge, lautet wohl der trendige Begriff dafür. Und klar, es ist wichtig, für sich selbst und für sein Wohlbefinden zu schauen, auf einem Kalenderblatt im Wartezimmer beim Zahnarzt würde wohl stehen: du kannst nur Gutes tun, wenn es dir selber gut geht. Ein Kalenderblatt weiter könnte dann stehen: wenn du die Welt verbessern willst, dann beginne in deinem engsten Umfeld damit. Klingt alles furchtbar banal, und dennoch ist es nicht falsch.

Und gleichwohl gibt es einen Fallstrick bei dieser ganzen Selbstfürsorge: das neue Biedermeier. 

Wahrscheinlich ist das ein Phänomen, das nicht nur in Zürich auftritt, sondern auch in vielen anderen westlichen Städten mit einer eher wohlhabenden Mittelschicht. Aber hier ist in linksurbanen Kreisen der neuste Shit, selber Sauerteigbrot zu backen, Bier zu brauen, im Hochbeet Salat zu pflanzen und sich allerhand Geschirr zu töpfern. Das ist ja eigentlich auch völlig in Ordnung. Nur habe ich den Eindruck, dass damit häufig ein völliger Rückzug ins Private einhergeht. Dass es sich diese Leute einfach schön gemütlich machen daheim und mit der Welt draussen nichts mehr zu tun haben wollen. Dass für sie der Lockdown ewig weitergehen könnte, weil sie dann keine Leute treffen müssen, keine fremden Ansichten und Eindrücke aushalten müssen. Einfach schön kuschelig daheim am eigenen Bierchen nuckeln. 

«Post pandemic planet» heisst unser Briefwechsel – und wenn ich auf diesem postpandemischen Planeten auf eine westliche Gesellschaft träfe, in der den Menschen vögeliwohl dabei wäre, einfach mit ihrer Kernfamilie daheim zu hocken, Sauerteigbrot zu knabbern und Netflix zu gucken, dann würde ich finden: nicht so gut. Ich glaube: Wir müssen alle wieder raus, sobald es geht. Nicht um die Weltrevolution anzuzetteln (gegen derartige Unterfangen bin ich misstrauisch), sondern um Öffentlichkeit zu schaffen. Um uns auf Plätzen zu begegnen, auf Strassen, in Lokalen, um von Angesicht zu Angesicht Argumente auszutauschen statt uns bloss in sozialen Netzwerken anzubrüllen. Um draussen die Anliegen anderer zu erkennen, um solidarisch zu sein mit Leuten, die unter die Räder kommen.

Und vielleicht sind daher nicht nur die Pärchen Rebellen, die sich in deiner Strasse in einem Auto zum Schäferstündchen treffen, Romano. Sondern auch die Leute, die das Feierabendbier nicht daheim trinken, sondern im «Si o No», sobald das wieder geht. Weil sie dann vielleicht mit den Leuten am Nachbartisch ins Gespräch kommen, Banalitäten oder Tiefgründiges austauschen, sich mögen, sich auf die Nerven gehen. Was man eben so tut als Mensch.

Feierabendbier mit dir wär auch mal wieder schön, Romano. Ist gerade aber etwas schwierig, so über den Ozean. Kannst mir ja eine Kneipe bei dir in der Gegend angeben. Ich komm dann mit dem gelben Streetview-Männchen vorbei, wenn ichs finde.

 

Liebe Grüsse und gehab dich wohl,

Markus

 

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