- 8. März 2021 – Die wahre Rebellion besteht aus Liebe
- 5. April 2021 – Gesund sein ist nicht alleine Sache des Individuums
- 3. Mai 2021 – Gehen wir weiter – dankbar, erhobenen Hauptes und ohne Angst
- 31. Mai 2021 – Covid-19 entlarvt den ganz normalen Wahnsinn unserer Zeit
- 8. November 2021 – Antrag zur Abschaffung der Nationalstaaten
Montag, 8. November 2021, Tumbaco, Ecuador
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Antrag zur Abschaffung der Nationalstaaten
Liebe Katharina, lieber Claudio
Letzthin stand ich vor einem riesigen Areal irgendwo in einer Schweizer Vorstadt und traute meinen Augen nicht. Da wurde tatsächlich Pflegepersonal in Selbstverteidigung ausgebildet. Echt jetzt! Mehrere Kampfsporttrainer sprangen in schwarzen Hosen vor den in blauen Uniformen gekleideten Pflegerinnen und Pflegern herum, und zeigten diesen, wie sie sich gegen ungeimpfte SpitalbesucherInnen wehren können. Beim Areal handelte es sich um ein altes Militärkrankenhaus, das in ein staatlich verwaltetes Impfzwangszentrum umgewandelt worden war. Wer noch nicht geimpft war, wurde durch die Halle geschleust und – falls nötig – geknebelt und an einen Rollstuhl gefesselt, von einem Gespritzten injiziert …
Zum Glück fand diese Szene nur in meinem Traum statt. Wachgerüttelt hat sie mich trotzdem, denn seien wir ehrlich: Im Zusammenhang mit Covid-19 bewegen wir uns bewusst oder unbewusst zunehmend in eine Richtung, wo physische Gewalt seitens des Staates legitimiert und in gewissen Kreisen sogar zelebriert wird. In Ländern wie der Schweiz tun wir uns ja seit langem schwer mit Lärm und Unordnung – obwohl gerade sie Teil einer lebendigen Demokratie sein können. Stattdessen schränken wir die Bewegungsfreiheit jener ein, die als Ungeimpfte zum „Inneren Feind“ erklärt werden und potenzieren dadurch die Verhärtung der Fronten.
Inzwischen ist vielerorts in Europa bereits von der 2G-Regel die Rede, also Zugang nur für Genesene oder Geimpfte, wie es ab heute in Österreich der Fall ist. Sind das etwa die Vorboten einer Diktatur? Wohl kaum. Allerdings klingt es auch nicht nach Demokratie, wenn ein Viertel der Bevölkerung auf Grund seiner Haltung gegenüber einem Arzneimittel vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wird, selbst wenn dies nur vorübergehend geschieht. Was vor ein paar Monaten noch als „freiwillig“ galt, wird heute als „indirekter Impfzwang“ schwammig geredet – und von vielen kommentarlos abgenickt.
Es mag eine schwierige Aufgabe sein, doch wer von Rechtsstaat und Demokratie spricht, und diese verteidigen möchte, muss Andersdenkende akzeptieren oder zumindest aushalten. Ihnen die Schuld für überlastete Spitäler in die Schuhe zu schieben, greift zu kurz. Wo kommen wir denn hin, wenn der Staat darüber entscheidet, welche Krankheiten systemrelevant sind und welche nicht? Stellt Euch mal vor, Menschen mit Diabetes oder Herz-Kreislauf-Problemen – zwei der am weitest verbreiteten Krankheiten im globalen Norden – dürften keinen Zucker mehr essen, Alkohol trinken und auch nicht rauchen. Wenn sie es doch tun, würden sie nicht behandelt.
Spinnen wir den Gedanken noch ein bisschen weiter: Man stelle sich als GeimpfteR einmal vor, was mit ihrem ungeimpften Nachbarn, Bruder oder Arbeitskollegen geschieht, wenn irgendwann die 1G-Regel eingeführt wird, und sie oder er nicht einmal mehr arbeiten geschweige denn Lebensmittel einkaufen dürfen. Was ist daran noch solidarisch?
„Wie wäre es mit einer komplett neuen Geschichte, einer ohne Blei, Blut und Bullshit?
Wir brauchen ein Narrativ, das ähnlich einend wirkt wie einst die Kriege und
Heldengeschichten, die der Gründung der Nationalstaaten vorangegangen sind.“
Kommen wir nach Ecuador, wo die Bewegungsfreiheit nicht via Zertifikate, sondern auf Grund wirtschaftlichen Drucks eingeschränkt ist. Die BewohnerInnen können sich beispielsweise die Fahrkosten im Öffentlichen Verkehr kaum noch leisten. Zwei Jahre nach den massiven Protesten gegen die Abschaffung der Subventionen auf Treibstoffe mit rund einem Dutzend Toten, sind während der vergangenen Monate die Kosten für Benzin und Diesel in die Höhe geschnellt – und damit auch die Ticketpreise sowie jene für Lebensmittel; letztere gelangen via Lastwagen oder Schiff zu den KonsumentInnen.
Ursache für diese Situation war die Entscheidung von Präsident Lenin Moreno (2017-2021), die Subventionen ein halbes Jahr nach dem Landesstreik definitiv zu streichen – im Wissen, dass die Bevölkerung Angst vor Covid-19 hat, und sich im Juni 2020 auf Grund des Ausnahmezustands und einer radikalen Ausgangssperre ab 14 Uhr ohnehin nicht auf die Strasse trauen würde.
Vater Staat hatte damals gesprochen und seine Eiserne Hand über das verängstigte Volk gehalten! Dass dieses Hunger litt und leidet, die Eltern wegen fehlendem Einkommen ihre Kinder nicht mehr zur Schule oder Universität schicken und MigrantInnen aus Kolumbien oder Venezuela von ihren Vermietern von einem Tag auf den anderen auf die Strasse gestellt wurden, wird nicht erwähnt.
Auch deshalb kam es in diesen Wochen landesweit wieder zu Streiks und Strassensperrungen. Die Menschen haben genug von den Politikern im Regierungsgebäude, die sie nicht repräsentieren – eine Situation, wie man sie in den Ländern des Südens eigentlich seit jeher kennt. Doch der Unmut ist längstens auch in Europa angekommen. Seit der Finanzkrise 2008 gehen dort regelmässig Menschen auf die Strasse, in den vergangenen Jahren vor allem wegen Umweltfragen. Da hat Vater Staat also alle Hände voll zu tun. Und er setzt zunehmend auf Härte.
Lasst uns deshalb die Beantwortung folgender Frage ausloten: Was würde geschehen, wenn die StaatsvertreterInnen nicht mehr als solche wahr– und also nicht mehr ernstgenommen würden?
Keine Angst, ich zähle nicht zu den Libertären, die am liebsten hätten, wenn sämtliche Probleme unserer Leben via Markt gelöst würden. Das fände auch ich erbrechenswert. Auch von einer „Europaregierung“ oder gar einer „Weltregierung“ halte ich nichts. Und Nein, lieber Bundesnachrichtendienst, dieses Schreiben ist kein Aufruf zur politischen Agitation oder Sabotage, um Himmels willen! Ich bitte Euch den Umstand zu berücksichtigen, dass der Antrag zur Abschaffung der Nationalstaaten in Ländern wie der Schweiz, wo staatliche Institutionen einem Grossteil der Bevölkerung über Jahrzehnte relative Stabilität ermöglicht haben, ein müdes Lächeln auslösen dürfte.
In Ländern wie Ecuador hingegen, wo sich der Präsident inmitten landesweiter Proteste für eine Geschäftsreise nach Europa abgesetzt hat, es in den Gefängnissen regelmässig zu blutrünstigen Meutereien kommt und die Spitäler monatelang auf Medikamente warten müssen, in einem solchen Land können Gedankenspiele wie diese durchaus auf Potenzial stossen.
Wenn es nämlich ums Eingemachte geht, – und darum geht es im Moment wieder einmal – dann glänzt hier der Staat durch Abwesenheit oder Gewaltexzesse, je nach Szenario. Der Graben zwischen den Wählenden und den Gewählten ist derart gross, dass Demokratie zur Satire verkommt und Grundrechte wie jenes, Widerstand zu leisten, irgendwo zwischen staatlichen Bürogummis, korrupten Funktionären und berittenen Polizisten aufgerieben werden. „Warum“, fragte mich kürzlich eine Indigene, „warum versuchen wir nach wie vor auf offiziellem Weg Politik zu machen, obwohl wir genau wissen, dass wir da nicht weiterkommen?“ Wohl ganz einfach, weil wir uns an diese Organisationsform und dessen Repräsentanten gewöhnt haben.
Ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Fakt ist, dass sich die PolitikerInnen in Quito, Buenos Aires oder Lima, von mächtigen Lobbyorganisationen aus Bergbau-, Pharma- oder Agrarindustrie einseifen lassen, Gelder veruntreuen, Machenschaften zu grossen Medienhäusern pflegen oder auf Kosten des Staates in entfernte Länder reisen – und trotz alledem gewählt werden. Teilweise immer und immer wieder. Dasselbe gilt in abgeschwächter Form auch für Repräsentanten in Bern, Berlin oder Wien. Wir befinden uns quasi auf der Reise in einem Perpetuum Mobile Corruptio, aus dem auszusteigen Mut und Kreativität erfordern.
Wie wäre es mit einer komplett neuen Geschichte, einer ohne Blei, Blut und Bullshit (BBB)? Wir brauchen ein Narrativ, das ähnlich einend wirkt wie einst die Kriege und Heldengeschichten, die der Gründung der Nationalstaaten vorangegangen sind. Wir könnten zum Beispiel die AktivistInnen der Klimastreiks an den Anfang nehmen. Sie sind friedlich, farbig, kreativ und mit einem Bewusstsein für unseren Planeten und damit auch für uns Menschen, in das sich die Machos (und Machas) in den Regierungen und Ministerien nicht ansatzweise hineinfühlen können. Ausserdem leisten sie jenen Ungehorsam, den es braucht, um die Abschaffung der Nationalstaaten voranzutreiben.
„Die Antwort auf die Frage, was geschieht, wenn sich nationale Parlamente leeren,
findet sich im Verantwortung übernehmen: für sich, sein Umfeld und die Erde.
Idealerweise kollektiv und friedlich. Ob wir reif dazu sind?“
Doch es braucht weitere Schritte, zum Beispiel die Besetzung und Bewirtschaftung von Land. Ohne eigenes Territorium mit eigener Landwirtschaft, Medizin, Bildung sowie Produktionsanlagen, um Güter für unser Leben und Überleben zu produzieren, werden wir nicht loskommen vom Tropf des Vater Staats.
Die Revitalisierung unserer Leben muss übrigens nicht in der Schweiz oder Europa stattfinden, sondern kann auch am anderen Ende des Planeten auf fruchtbaren Boden stossen. Denn – und darin besteht vielleicht eine der grossen Chancen dieser Pandemie – auch hier werden sich die (jungen) Menschen bewusst, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Es sind diese Risse im System, die wir als verantwortungsvolle StaatsbürgerInnen wahrnehmen sollten, um das Präfix „Staat“ hinter uns zu lassen und uns auf den Kern des Bürgens zu konzentrieren. Auf dass unsere Handlungen im Einklang stehen mit unseren Gedanken, unseren Worten, unserer Intuition.
Wenn Gewählte einer Demokratie ihre Verantwortung nicht mehr wahrnehmen können, weil sie sich im seichten Fahrwasser des Perpetuum Mobile Corruptio befinden oder ihnen auf Grund veralteter Strukturen die Hände gebunden sind, dann müssen jene auf- und hinstehen, die ihnen diese Verantwortung einst im besten Wissen und Gewissen übertragen haben. Die Antwort auf die Frage, was geschieht, wenn sich nationale Parlamente leeren, findet sich im Verantwortung übernehmen: für sich, sein Umfeld und die Erde. Idealerweise kollektiv und friedlich. Ob wir reif dazu sind?
Liebe Kate und lieber Claudio: Ich bin wieder einmal lang und episch geworden. Ich hoffe, Ihr befindet Euch nicht in der Novemberdepression oder beim Fälschen eines Covid-Zertifikats. Und wenn doch, dann wünsche ich viel Vergnügen! Das ist letztlich das Einzige, was uns bleibt: Das Leben nicht allzu ernst zu nehmen und den guten Humor nicht zu verlieren.
Abrazos übers Wasser
Romano
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Montag, 31. Mai 2021, Tumbaco, Ecuador
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Covid-19 entlarvt den ganz normalen Wahnsinn unserer Zeit
Lieber Markus, Büronachbar aus Luzerner Zeiten
Lieber Claudio, Chef-Administrator aus dem Fast-Aargau
Liebe Katharina, Dialektsprecherin aus dem Gallierdorf Mals
Heute kam ein älteres Pärchen in die Praxis und erzählte der Ärztin, sie würden Mitte Juli nach New York fliegen, um sich dort impfen zu lassen. Bitte?!, dachte ich, Impftourismus Made in USA. Was geht denn hier gerade ab? Klar, die Menschen wollen zurück zur Normalität vor der Pandemie, und scheuen keinen Aufwand, sich jene Injektion geben zu lassen, von der sie sich diese erhoffen. Das ist nach Monaten der staatlich verordneten Isolation und des Arbeitsverbotes verständlich. Gleichzeitig spiegelt es die Rat- und Rastlosigkeit unserer Gegenwart wider sowie den ungebrochenen Glauben an schnelle Lösungen von grossen Institutionen aus dem Globalen Norden.
Wenn sich weltweit Millionen von Menschen innerhalb weniger Monate durch einige hundert Firmen und Staaten Produkte injektieren lassen, als handle es sich um eine antibiotikabedürftige Viehherde, dann stösst das bei mir auf Skepsis. Nein, ich bin kein Impfgegner. Doch ich kann die derzeit stattfindenden Ereignisse nicht einfach abnicken. Auch verstehe ich den kaum vorhandenen Widerstand aus der Bevölkerung nicht, etwa gegen den Impfausweis. Immerhin muss Mann und Frau diesen heute vielerorts in Hotels und Restaurants bereits vorweisen, um ein Bett oder einen Tisch zu bekommen, Registrierung inklusive.
All das riecht stark nach Impfzwang, der früher oder später kommen könnte. Und durch die Registrierung von Namen und Telefonnummern droht auch gleich noch die Aushöhlung des Datenschutzes. In Quito sind einzelne Busbahnhöfe inzwischen sogar mit Geräten ausgerüstet, die einem bei Betreten des Geländes automatisch die Temperatur messen und sämtliche Gesichter fotografieren – ungefragt, wohlverstanden. Schöne, neue, gespritzte und transparente Welt. George Orwell dürfte sich im Grab umdrehen …
Ich finde diese Entwicklung alles andere als gesund, und ist nicht einmal dadurch zu rechtfertigen, baldmöglichst zum Alltag Pre-Covid-19 zurückzukehren. Abgesehen davon gibt es diesen eh nicht mehr. Ich bin gelinde gesagt überrascht ab Eurer Haltung, lieber Markus und lieber Claudio. Wenn Ihr Euch impfen lassen wollt, dann ist das Eure Sache, aber das Ganze ohne weitere Fragen gutzuheissen und der Pharmaindustrie blind zu vertrauen, kommt einer Kapitulation gleich. Müssten wir als JournalistInnen diese Entwicklung nicht kritischer begleiten? Oder ist das in einem Land, dessen Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren massgeblich vom Pharmasektor abhing, nicht mehr möglich?
Durch die Massenimpfungen senden wir jedenfalls ein klares Signal: Wenn was ist, liebe Pharmaindustrie, dann verlassen wir uns auf Euch. Vertrauen tönt eigentlich gut, aber doch bitte nicht gegenüber grossen Industrien! Die chronische Abhängigkeit derselben – egal ob Rohstoffe, Nahrungsmittel, Pharma, Hightech – zwingt uns doch heute schon in ein viel zu enges Korsett. Abgesehen davon verdienen Novartis & Co. mit unseren Krankheiten ungesund viel Geld.
Auf Grund des etablierten Produktionsmodells und der herrschenden Kräfteverhältnisse
haben sich einfache sozial- und umweltpolitische Anliegen in Utopien verwandelt.
Die Aufhebung des Patentschutzes, wie es nun von den USA gefordert wird, mag ein erster Schritt sein, dies zu ändern. Doch danach braucht es dringend eine Demokratisierung unserer Gesundheitssysteme, also etwa die Abschaffung privater Krankenkassen sowie die komplette Anerkennung alternativer Behandlungsmethoden. Es darf nicht sein, dass Gesundheit monopolisiert, und den Völker dieser Erde nur dann Zugang zur Welt geschaffen wird – Stichwort Reisen –, wenn sie sich mit einem bestimmten Produkt impfen lassen. Wir können Covid-19 als Zufall betrachten wie Claudio, und die Geschichte trivialisieren. Wir können die Krankheit aber auch als Warnung interpretieren, um die herrschenden Strukturen in Frage zu stellen und nach Alternativen zu suchen.
Dazu braucht es Utopien. Nur so verlieren wir den Horizont nicht aus den Augen. In diesem Sinne scheint mir Markus’ Gedankenspiel durchaus aufschlussreich – vielen Dank! Es setzt Mut, Anstrengung sowie ein bisschen Widerstandskraft voraus, um sich von den Kräften der Massen nicht einnehmen oder gar erdrücken zu lassen. Nur schon indem wir andere Gedanken zulassen und weiterspinnen, öffnen wir die Türen für andere Lebensformen. Diese mögen zuerst auf einem Kalenderblatt geschrieben stehen oder in einem Song wie «Imagine» vorkommen. Wie sollen sie sonst in die Köpfe und Herzen dieser Welt kommen? Ohne Visionen droht, wie Markus selber schreibt, der Stillstand. Die Sorgen, um die anschliessende Umsetzung hingegen teile ich nicht. Sie wird sich von alleine ergeben – zumindest an jenen Orten, wo die Bevölkerung noch Einfluss hat. Da vertraue ich auf den genio colectivo.
Utopien gibt es derzeit ja genügend – nicht etwa, weil diese enorm revolutionär wären, sondern weil wir Sumak Kawsay oder «gut leben» (Buen Vivir) verlernt haben. Der herrschende Courant Normal oder das Streben danach, alles, immer und überall konsumieren zu können, hat uns blind für die natur- und menschenfeindlichen Strukturen unserer Zeit werden lassen. Deshalb ist es auch keine Überraschung, dass wir wie Schafe vor Spitälern und Praxen warten, und all unsere Hoffnung in ein Arzneimittel setzen, dessen langfristige Folgen noch gar nicht geklärt sind. Dieser Kontext scheint mir wichtig, um die Liste der folgenden Utopien besser verstehen zu können:
Sauberes Trinkwasser: Ich bin bisher davon ausgegangen, dass dies im Wasserschloss Schweiz eine Selbstverständlichkeit ist. Nun ist diese durch die bevorstehende Abstimmung Mitte Juni in Frage gestellt. Und ich bin sprachlos, dass Regierung und Parlament die Nein-Parole gefasst haben.
Geldpolitik: Vor drei Jahren wurde in der Schweiz darüber abgestimmt, ob künftig nur noch die Nationalbank für die Geldschöpfung verantwortlich sein soll. Das hätte die Privatbanken in die Schranken gewiesen und wäre ein mögliches Mittel gewesen, um (Finanz)-Krisen vorzubeugen. Doch auch dieses Anliegen scheint heute nur in der Welt der Utopie Platz zu haben.
Ernährungssouveränität: Will heissen, dass wir lokal anbauen und nicht mehr auf Importe angewiesen sind. Im 19. Jahrhundert führten die Getreideimporte aus den USA zu einer Verarmung der Bauern. 150 Jahre später setzt das Schweizer Stimmvolk weiterhin auf Importe aus Übersee.
Fair produziertes Essen: Auch hier ging es um eine Volksinitiative zur Lebensmittelproduktion und darum, diese fairer und umweltfreundlicher zu gestalten – und auch hier fanden die Stimmberechtigten: Niet!
Ihr seht: Auf Grund des etablierten Produktionsmodells und der herrschenden Kräfteverhältnisse haben sich einfache sozial- und umweltpolitische Anliegen in Utopien verwandelt. Entsprechend reicht es vielleicht für den Moment, wenn wir uns auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner auf etwas konzentrieren, dass wir alle zum Lleben brauchen: das Essen.
Als Städter (siehst Du Dich eigentlich noch als Städterin, Katharina?) wissen wir oft nicht, wie viel Schweiss und manchmal sogar Blut in unseren Äpfeln, Rosinen und Frikadellen steckt. Die Bauern und Viehzüchter stehen jeden Tag auf dem Feld oder im Stall, um uns zu ernähren. Und vergessen wir nicht Sonne, Wind, Erde und Wasser sowie die Würmer und Pilze, Bakterien und Mikroorganismen, die dafür sorgen, dass die Samen spriessen und die Früchte reifen. Deshalb meine Utopie: Die Beziehungen zwischen Natur, LebensmittelproduzentInnen und KonsumentInnen so zu gestalten, dass sich die Menschen der gegenseitige Nähe zum Anderen bewusst werden, erkennen, wie abhängig sie voneinander sind, und wie wichtig gesundes und lokal angebautes Essen für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, eines ayllus, ist.
Ohne sich bisher mit Covid-19 angesteckt zu haben (jedenfalls nicht wissentlich), ohne geimpft worden zu sein, dafür gelegentlich Salate aus dem eigenen Garten essend, grüsst vom Äquator
Euer Romano
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Montag, 3. Mai 2021, Tumbaco, Ecuador
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„Ich spreche zu Euch als Götter und Göttinnen Eures Lebens. Ihr erschafft diese Welt in jedem Augenblick neu. Ihr tragt die volle Verantwortung für Euer Handeln, ja für jeden Gedanken und für jedes Wort, das Ihr sagt. Ich spreche zu Euch, die Ihr mit der Erde als lebenden Planeten und all ihren Lebewesen in einem natürlichen Prozess der Entstehung, der Wandlung und des Zerfalls verbunden seid. Ich spreche zu jeder Seele, die sich selbst befreit aus dem Kreislauf von Geburt und Tod durch die Widergeburt in Ewigkeit. Es gibt kein Grund mehr Angst zu haben. Ich spreche zu Euch durch jeden, der mit reinem Herzen spricht. Denn alle Worte in Liebe gesprochen, sind ein Gebet an diesen Planet.“
„Denk jetzt nicht“ – Thomas D.
Gehen wir weiter – dankbar, erhobenen Hauptes und ohne Angst
Sehr geehrte Noch-Pandemikerinnen,
Sehr geehrte Noch-Pandemiker,
Sehr geehrte alle Anderen
Als erstes möchte ich auf das letzte Schreiben von Markus eingehen. Immerhin hat es mich kurz aus meinen Träumen zum Post-Pandemic-Planet gerissen, diesem vielleicht etwas verwogenen Projekt, das zu einem Zeitpunkt geboren wurde, den die Allgemeinheit als inadäquat bezeichnen könnte. Markus selbst schreibt, dass er eigentlich noch viel zu sehr mit der Pandemie beschäftigt sei, als dass er sich Gedanken über das Danach machen könne.
Klar, es gibt einfachere Dinge, als sich von den Wellen des herrschenden Narrativs nicht erschlagen zu lassen – vor allem dann, wenn man als Journalist im Tagesgeschäft steckt und als Angestellter eines staatlichen Medienunternehmens nahe an der offiziellen Version berichtet. Bitte nicht persönlich nehmen!
Damit wir uns richtig verstehen: Auch ich zähle mich zu den Noch-Pandemikern und die Zweifel zu meiner eigenen Wahrnehmung sind meine ständigen Begleiter. Allerdings scheint es mir wichtig, dass wir als Schreibende nicht im Fahrwasser der Krise verharren, sondern mehr und mehr jenen Gedanken Raum geben, die uns und unseren LeserInnen ein bisschen Luft verschaffen. Ansonsten wird jene Entwicklung potenziert, die bereits vor der Pandemie auszumachen war und die auch mir zuweilen Bauchschmerzen bereitet: Der Rückzug ins Private und Digitale und die Abnabelung vom Alltag auf der Strasse. Das Homeoffice lässt grüssen.
Auch ich informiere mich seit längerem nur noch oberflächlich zu Covid-19. Schliesslich kann ich mir die Pandemie-Situation ungefähr zusammenreimen, etwa wenn wie in diesen Tagen hier in Ecuador neue Ausgangssperren verhängt werden. Als JournalistInnen wissen wir genau, dass die abgebildete Realität immer nur ein kleiner Teil dessen ist, was sich tatsächlich abspielt. Entsprechend stellt sich mir die Frage, ob ich mich damit auseinandersetzen möchte. Und die Antwort ist für mich mit jedem Pandemie-Tag klarer: Nein. Ganz einfach, weil ich mein Immunsystem nicht zusätzlich belasten möchte. Sich einmal in der Woche auf den neuesten Stand bringen, reicht absolut.
Diese Entscheidung bedeutet nicht, dass ich mich blind-stumm-taub vom «Leben da draussen» verabschiede. Es bedeutet lediglich, dass ich mich aus Gründen der Gesundheitsprävention der seit über einem Jahr kultivierten Angst entziehe und mich stattdessen auf meine Intuition verlasse. Und die sagt mir, dass es ein guter Zeitpunkt ist, meine Perspektive auf die Welt zu ändern – und damit auch auf die Pandemie. Ich bin jedenfalls daran, meinen Konsum und die Reproduktion von Bad News auf ein Minimum zu reduzieren. Lieber nehme ich sie als Ausgangspunkt dafür, anderen Themen eine Plattform zu bieten. Im Fachjargon heisst das constructive journalism. Mehr dazu gleich nach dem folgenden Satz, dem ich eine eigene Zeile widmen möchte:
Es gibt Tage, an denen ich Brechreiz bekomme, wenn ich daran denke, womit ich die vergangenen Jahre mein Geld verdient habe. Geht Euch das auch so?
Weiss einer von Euch, warum in Zusammenhang mit der Pandemie
kaum über alternative Heilmethoden berichtet wird?
Konstruktiver Journalismus also: Willkommen an Bord! Ist nicht auch das einer der Gründe für unseren Briefverkehr? Der Versuch, eine andere Welt zu denken? Klar befinden wir uns noch mitten in der Pandemie, hier in Lateinamerika könnte diese sogar noch länger dauern. Aber das hindert uns ja nicht daran, Ideen fürs Danach zusammenzutragen. Mir tun die Ansätze von Katharina jedenfalls gut, wenn sie davon träumt, dass Respekt für die kleinsten Lebewesen unter Jugendlichen sexy werden könnte. Ich finde, das hat überhaupt nichts Revolutionäres. Gerne würde ich mehr solche Dinge lesen. Sie sind wie ein Schnorchel, durch den ich frische Luft schnappen kann, bevor es wieder in den dunklen Bauch des Covid-19-Einheitsbreis geht.
Sorry für diese Rhetorik, aber wenn ein paar hundert Firmen und Staaten Millionen von Menschen ein über Notverordnungen zugelassenes Arzneimittel spritzen lassen, und dies von den Medienschaffenden praktisch unhinterfragt als einziger Weg aus der Pandemie gesehen wird, kann nicht von einer differenzierten Berichterstattung die Rede sein. Ach, und wenn wir schon dabei sind: Weiss einer von Euch, warum in Zusammenhang mit der Pandemie kaum über alternative Heilmethoden berichtet wird?
Die Verwirrung, liebe Katharina, hat auch mich wieder mal eingeholt … Deshalb kehre ich jetzt zurück zu meinen Leisten: dem konstruktiven Journalismus. Nun, eigentlich sind es gar nicht meine Leisten, immerhin gehörte ich jahrelang zur Bad-News-Sekte. Wenigstens habe ich es vor vier Jahren geschafft, ein Buch mit konstruktiven Geschichten zu veröffentlichen (sorry für die Schleichwerbung). Und ich darf heute gestehen: Es ist etwas vom Besten, was ich in meinen zwanzig Jahren Journalismus getan habe. Nicht weil der Inhalt besonders gut ist, das sollen andere beurteilen. Doch als Autor habe mich gut gefühlt. Und auch dieser Satz bedarf einer eigenen Zeile.
Als Autor eines journalistischen Textes habe ich mich gut gefühlt. Ausrufezeichen.
Ich habe es danach leider nicht geschafft, diesen Typ Journalismus weiter zu pflegen, bin aber nach den Krisenjahren 2019 (Landesstreik in Ecuador) und 2020 (Ausbruch der Pandemie) zum Schluss gekommen, dass ich meine Energie nicht weiter an Menschen und Gegebenheiten vergeuden möchte, die mich schlecht schlafen lassen. Ich möchte nicht, dass meine Sensibilität vor die Hunde geht und ich mich zwecks Abwehr nebst Schutzmasken im Gesicht bald noch in eine Ritterrüstung zwängen muss.
Letztlich gehts doch darum, mit welchem Gefühl man sich am Ende eines Arbeitstages zu Bett legt. Beim Schreiben von «Hände der Transition» ging es mir jedenfalls besser als bei den Recherchen zur Agrarindustrie. Ich setzte mich mit Realitäten auseinander, die mich endlich wieder schnorcheln liessen. Und ich kam mit Personen in Kontakt, die Freude an dem haben, was sie machen. Ein Privileg? Für viele Menschen Ja. In unserem Falle würde ich eher sagen: eine Entscheidung. Eine Verantwortung.
Um dem Pathos noch den Rest zu geben, und auch, um Claudios Credo des Schritt-für-Schritt-Gehens zu ehren, sei an dieser Stelle der gute Eduardo Galeano (1940-2015) zitiert: «Die Utopie sie steht am Horizont. Ich bewege mich zwei Schritte auf sie zu und sie entfernt sich um zwei Schritte. Ich mache weitere zehn Schritte und sie entfernt sich um zehn Schritte. Wofür ist sie also da, die Utopie? Dafür ist sie da: um zu gehen!»
Gehen wir also weiter, liebe Brieffreundinnen und Brieffreunde. Dankbar, erhobenen Hauptes und ohne Angst. Zurück können wir sowieso nicht.
Abrazos aus dem Südosten
Romano
PS: Die #allesdichtmachen-Debatte ist völlig an mir vorbeigegangen, liebe Katharina. Vielleicht mögen Markus oder Claudio darauf eingehen.
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Montag, 5. April 2021, Tumbaco, Ecuador
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Gesund sein ist nicht alleine Sache des Individuums
Markus, liebgewonnener Bär
Liebe Katharina, lieber Claudio
Ich steh‘ heute wieder mal am Berg. Klar, ich würde gerne etwas Ansprechendes schreiben, etwas, an dem sowohl Ihr als auch die Nachwelt etwas hätten. Etwas Aufbauendes vielleicht, etwas Perspektiven bietendes, aber ich tu‘ mich gerade ziemlich schwer. Es fühlt sich an, als ob mich eine Bleikugel am Boden halten würde, um den kreativen Flug durch die Unweiten des Universums und dessen Möglichkeiten zu verhindern. Auf dass ja nichts Gutes den Weg durch meinen Körper findet! Was bei Markus Ratlosigkeit ist, ist bei mir Schwermut. Wenigstens heute.
Entsprechend werde ich umstrittene Themen wie Massen-Impfungen, eingeschränkte Versammlungsfreiheit und staatlich verordnete Lockdowns aussen vor lassen. Sonst käme ich schnell ins Fahrwasser der Empörung, und wahrscheinlich würde ich mich hinterher dazu gezwungen sehen, mich mit einer Bettflasche am Rücken in die Embryostellung zurückziehen. Schreiben kann ja auch heilend wirken. Mal schauen, ob das heute klappt.
Am besten berichte ich Euch kurz von meiner letzten Recherche hier in Ecuador. Sie handelt von Avelina, einer curandera, die ihre PatientInnen – auch jene mit Covid-19 – mit der Medizin ihrer Vorfahren behandelt, also mit Kräutern, Massagen, Schröpfen, Steine auflegen, Kolloidales (Silberwasser) und alles, was irgendwie mit Heilmethoden zu tun hat, die breiten Bevölkerungsschichten zur Verfügung stehen. Über die Wirksamkeit dieser Methoden liesse sich jetzt lange streiten. Aber lasst uns auch das auf einen anderen Tag verschieben.
Vom Gespräch mit ihr ist mir folgender Satz geblieben: «Wenn wir über Krankheiten sprechen, meinen wir nicht ein Symptom. Vielmehr geht es darum, was in unserem Umfeld passiert, in unserer kosmischen Geschwisterschaft, also das, was wir unter ayllu verstehen. Nur durch unser Wahrnehmen der comunidad und ihrem Zustand können wir verstehen, was sich im Körper jedes einzelnen von uns abspielt.» In der Kosmovision der Andenvölker ist diese Wahrnehmung selbstverständlich, für mich ist sie eine Art Bewusstseinserweiterung.
Ayllu – Die Gemeinschaft also. Unser Stamm. Unsere Familie (gemeinsames Blut) und unsere Familien («Seelenverwandtschaften»). Das, was uns prägt und ausmacht. Es geht allerdings nicht nur ums Teilen des Lebensraums, sondern um eine lebhafte Interaktion mit demselben, sowohl materiell aus auch spirituell. Es geht um Werte und Weltanschauungen, um Solidarität und Respekt, um den Schutz des Lebens und den Aufbau und Erhalt von Lebensgemeinschaften – und zwar solchen die sich sowohl ihrer Vulnerabilität und Stärken bewusst sind als auch ihrer Möglichkeiten und Aufgaben. Es geht nicht nur ums Backen von Sauerteigbrot, ums gemeinsame Feierabendbier im «Si o No» in Zürich oder jenes im «Sabrosa» hier in Tumbaco (übrigens ein sehr schöner Ort mit sehr gutem Bier, handgemacht und meines Wissens noch nicht von Google erfasst …). Damit wir uns richtig verstehen: Brot backen und Bier trinken haben ihre Berechtigung, um nicht zu sagen ihren Stellenwert – auch innerhalb eines ayllu. Aber beim ayllu geht es um einen Kontext, der dem Brotbacken und dem Bier trinken einen Sinn gibt. Vielleicht spiegelt sich dieser Sinn im Wort Zusammenhalt wieder, vielleicht in dem, was wir allgemein unter Wertegemeinschaft verstehen.
„Denn während in Spitälern sowie Alters- und Pflegeheimen unsere Grossmütter und -Väter sterben, vegetieren weltweit tausende, wenn nicht Millionen von Menschen einsam und vereinsamt vor ihren Bildschirmen und Handys und krepieren langsam vor sich hin.“
Worauf ich hinaus möchte: Gesundheit ist nichts Isoliertes, sondern steht in enger Verbindung zu unserem Lebensstil und wie wir mit unserem Umfeld in Beziehung treten. Die Verbindung zwischen der Zerstörung von Ökosystemen und zoonotischen Krankheiten wie Covid-19 sind allgemein bekannt. Auch dass Stress unser Immunsystem belastet, wissen wir. Und dennoch wollen viele zurück zur Pre-Pandemie-Normalität. Selbst die Regierungen künden an, dass dank der Impfung bald wieder «Normalbetrieb» herrscht. Doch zu welchem Preis?
Krankheiten, so habe ich gelernt, sind nicht nur zum Heilen da – Stichwort Symptombekämpfung – sondern auch, um etwas von ihnen zu lernen und gescheiter aus der Sache rauszukommen. Im Falle von Covid-19 und unter Berücksichtigung von Avelinas Lektüre sind also nicht nur wir als Individuen gefragt, gemeint sind auch wir als Kollektiv, als ayllu.
Wenn ich nun aber an die Zeit vor der Pandemie denke, taucht bei mir automatisch die Frage auf, in welchem Zustand sich unsere ayllu befunden haben, dass ein Virus und seine Mutationen derart leichtes Spiel haben konnten. Was ist bloss los mit unseren ayllu, lieber Markus? Welchen Teil von ayllu haben wir nicht verstanden, querido Claudio? Oder Katharina, Du als Teil-Aussteigerin in den Bergen Südtirols, sind die ayllu dieses Planeten durch die Industrialisierung der vergangenen Jahrzehnte schon derart zerzaust, dass Gemeinschaftssinn nur noch in den eigenen vier Wänden stattfinden kann?
Einverstanden Markus, wir müssen bald wieder raus und von Angesicht zu Angesicht Argumente austauschen, von mir aus mit anderthalb oder zwei Meter Distanz. Aber bitte ohne Gesichtsmasken! Die rauben uns nämlich seit einem Jahr unsere Identität. Und ohne diese ist der (Wieder)-Aufbau von ayllu schwierig. Schliesslich lebt er, leben wir, von der Interaktion mit anderen Menschen. Zuhause hocken und Netflix glotzen scheint mir je länger desto gefährlicher. Denn während in Spitälern sowie Alters- und Pflegeheimen unsere Grossmütter und -Väter sterben, vegetieren weltweit tausende, wenn nicht Millionen von Menschen einsam und vereinsamt vor ihren Bildschirmen und Handys und krepieren langsam vor sich hin. Ob die Regierungen die Gefahr der chronischen Vereinsamung jener auf der Rechnung haben, denen sie eigentlich dienen sollten? «Divide and rule» lautet die Devise jener, die sich an der Macht halten wollen. Lässt sich dies etwa auch auf unsere momentane Situation übertragen? Denn so geteilt wie im Moment, so scheint mir, waren unsere ayllu schon lange nicht mehr …
Freunde, ich muss hier einen Break einlegen. Ich bin hundemüde und kann Katharina nachfühlen, wenn sie schreibt, dass sie verwirrt sei. Das bin ich auch. Deshalb höre ich jetzt auf. Das ist zwar nicht gerade gentlemanlike, aber als gebrandmarkter Woodstock-Hippie bin ich damit eigentlich fein raus, nicht?
Ich geh‘ jetzt schlafen.
Romano
PS1: In dieser Woche jährt sich die Erdölkatastrophe im ecuadorianischen Regenwald zum ersten Mal. Und ich erwähne das nur, damit wir Ereignisse wie diese auf dem Radar haben, wenn wir über Gesundheit diskutieren.
PS2: Markus, einE RebellIn zeichnet sich dadurch aus, dass sie oder er sich nicht an die vorgegebenen Normen hält, etwa jene einer Regierung. Im Falle des Feierabendbiers im «Si o No» könnte das zum Beispiel bedeuten, dass Du und Deine MittrinkerInnen den Spunten besetzen, und zwar solange, bis die BetreiberInnen entweder ihre Türen und Ausschänke öffnen und sich also auch in RebellInnen verwandeln oder aber ihr von der Polizei abgeführt werdet. Viel Glück! Und halt mich auf dem Laufenden …
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Montag, 8. März 2021, Tumbaco, Ecuador
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Die wahre Rebellion besteht aus Liebe
Liebe Freunde des geschriebenen Wortes
Soeben bin ich mit meinen Einkäufen aus dem Dorf zurückgekehrt, keuchend das Velo vor mir her stossend. Hier oben ist es einfach zu steil, als dass ich mich mit vollem Rucksack und Wasserbidon am Lenker den Strapazen einer Bergfahrt hätte aussetzen wollen; verschwitzt bin ich trotzdem. Wie jeden Tag parkten auch heute wieder diverse Autos in meiner Strasse – etwas, das sich anbietet. Denn die Strasse hier ist wenig befahren, die Gegend relativ sicher und die Aussicht aufs Tumbaco-Tal spektakulär, kurz: ideal für eine Pause oder ein Mittagsschläfchen. Auch Schäferstündchen werden hier abgehalten. Naja, zumindest ist davon auszugehen, wenn man die mit Decken abgedichteten und von Kondenswasser beschlagenen Fensterscheiben in Betracht zieht.
Doch wer will den Liebenden aus dem Tal den nachmittäglichen Austausch von Körperflüssigkeiten schon verwehren? Schliesslich rennen sie unten im Dorf seit über einem Jahr maskiert und Alkohol parfümiert durch die Gegend. Dazu kommen schlecht gelaunte Vorgesetzte, finanzielle Nöte oder Beziehungen, die wieder etwas Luft brauchen. Erwähnt sei auch die unfähige und korrupte Landesregierung, unmenschliche Arbeitsbedingungen oder gar keine Arbeit, aggressive Busfahrer und arrogante Polizisten. Wenn man dann noch die Meuterei in den ecuadorianischen Gefängnissen dazu nimmt, bei der Ende Februar rund achtzig Personen mit Küchenmessern erstochen, mit Eisenstangen erschlagen und hinterher mit Motorsägen zersägt worden sind – bei WhatsApp & Co. zirkulierten Videos von aufgestapelten Leichen und rausgeschnittenen Organen – dann bleibt einem eigentlich nur noch eine Medizin: Liebe machen am Berg!
Und genau da möchte ich heute ansetzen, meine lieben Brieffreunde, bei diesem oft beschriebenen und durchwegs abgekochten Begriff namens Liebe. Ich bin mir des Risikos bewusst, bei dieser Übung zu scheitern. Schliesslich haben schon viele Menschen versucht, der Liebe sprachlich auf die Schliche zu kommen. Doch vielleicht liegt gerade dort der Hund begraben: im Keine-Worte-finden. Denn was heisst schon Liebe? Etwa das, was uns verkokste FilmemacherInnen aus Hollywood verkaufen, die sich im Selbstmitleid ertrinkend nach Romantik sehnen, irgendwann ein Budget für diese Emotionen erhalten, und die Liebe in Form eines Streifens in ein Korsett packen? Mal ehrlich, gehts nicht eine Spur simpler? Beginnt Liebe nicht dort, wo Hass keinen Platz hat? Was ist mit unseren ArbeitskollegInnen, mit unseren Nachbarn und dem Turnlehrer unserer Kinder? Was mit den Migranten, Strassenwischern, Kleinkarierten, Kinderlosen, Aussichtslosen, Freidenkern, Haarspaltern, Pazifisten, Alleinerziehenden und den Millionen Legionen, die seit Jahrzehnten unbewaffnet durchs Leben gehen, sich auf Grund der Bedingungen aber schon früh eine Ritterausrüstung überzogen, um sich vom Schlachtfeld des Alltags zu schützen? Ist Liebe nicht viel grösser, als dass man sie auf die klassische Paarbeziehung aus dem 20. Jahrhundert und die daraus geborenen Kinder reduzieren könnte? Ist unser heute beginnender Briefwechsel nicht auch Ausdruck von Liebe?
Keine Sorge, dramatischer wird mein Schreiben nicht. Und auch werde ich unseren schriftlichen Austausch nicht wie andere Male durch postpubertäre Provokationen zu stören versuchen. Dazu ist die Stimmung allenthalben genügend aufgeheizt, nicht?
Mag sein, dass ich in dieser Hinsicht ein bisschen reifer geworden bin. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ab jetzt Drittpersonen mitlesen und ich Flausen einem dichteren Filter unterziehe; bin mir da noch nicht auf die Schliche gekommen. Fakt ist aber, dass ich müde bin, meine Damen und Herren: müde vom Virus, vom Kriegsgerassel und den Ängsten anderer, müde von den immer selben Nachrichten aus den immer selben Quellen mit dem immer selben Narrativ. Ich bin müde von der eindimensionalen Wahrnehmung unserer Leben und dem lieblosen Umgang mit demselben. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich bin müde von mir selber. Es ist eine Müdigkeit, die mit meiner Wahrnehmung zu tun hat und mit meinem Beruf als Journalist, Ihr kennt das ja. Ich bin es leid, den sogenannt Mächtigen auf die Finger zu schauen und bei meinen Recherchen darauf zu hoffen, ein Problem zu finden. Haben wir nicht genügend davon? Sind wir als JournalistInnen nicht Teil des Problems, wenn wir diese ständig wiederkäuen und dadurch zusätzlich legitimieren? Könnte es sein, dass wir längst den Blick fürs Wesentliche verloren haben und in einer Art Knock-Out-Zustand darauf warten, zu Boden zu gehen? Alle miteinander.
„Es ist die Zeitlosigkeit, die diesen Dingen innewohnt und sie deshalb unverzichtbar machen. Möglich, dass wir sie verlernt haben, ja. Möglich, das sie angestaubt irgendwo unter einer Decke stecken, doch verschwunden sind sie nicht. Wir brauchen sie lediglich wieder zu aktivieren und zu kultivieren.“
Ich weiss nicht, wie es Euch geht, aber in Zeiten wie diesen, in denen nicht klar ist, was morgen passiert und noch weniger, was uns übermorgen erwartet, scheint es mir sinnvoll, mich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren: Kampfkunst, nachbarschaftliche Beziehungen, der Garten, die Ursprungsfamilie sowie jene, die ich mir hier in Ecuador am aufbauen bin, gute Gespräche und Abende am Feuer, Musik und Tanz, gemeinsames Essen und Selbststudium sowie körperliche Nähe und seelische Wärme von liebgewonnenen Menschen. Es sind diese immateriellen Dinge, die mich in den vergangenen Monaten gehalten und gestärkt haben. Naja, eigentlich halten und stärken sie mich seit Jahren. Es ist die Zeitlosigkeit, die diesen Dingen innewohnt und sie deshalb unverzichtbar machen. Möglich, dass wir sie verlernt haben, ja. Möglich, das sie angestaubt irgendwo unter einer Decke stecken, doch verschwunden sind sie nicht. Wir brauchen sie lediglich wieder zu aktivieren und zu kultivieren. Sie sind Teil unserer Gemeinschaften und sie werden das Virus genauso überleben, wie sie es mit Hungersnöten, Kriegen und anderen Krisen getan haben. Ich glaube, man nennt das Kultur. Und auch glaube ich, dass wir uns da in die Nähe der Liebe bewegen.
Ich kann mir vorstellen, dass beim einen oder anderen von Euch nun ein Gefühl des Widerstandes geboren wird, Widerstand gegen diese vermeintlich naive Wahrnehmung der Realität. Nur, wer bestimmt diese Realität? Liegt es nicht an uns, was wir sehen und hören und inwiefern wir uns also beeinflussen lassen wollen? Bestimmen nicht wir selber, wonach wir uns richten? Und wenn Ja, warum stehen wir dann heute wie Kinder vor der Schlange, paralysiert darauf wartend, bis die Realität besser wird? Oder bin ich alleine mit dieser Wahrnehmung?
Apropos: Erinnert Ihr Euch an Momo, das kleine Mädchen in Michael Endes gleichnamigem Roman aus dem Jahre 1973? Katharina, die älteste in unserer Runde, war damals gerade sechs Jahre alt; wir andern dürften noch nicht einmal ein Funkeln in den Augen eines Kondukteurs gewesen sein, aber nun gut: anderes Thema. Momo jedenfalls lebte in einem Amphitheater und hatte es fertiggebracht, den BewohnerInnen der nahegelegenen Stadt wieder Leben einzuhauchen, allen voran den Kindern. Sie schaffte es, die Phantasie ihres Umfeldes anzuregen und den hart gewordenen Menschen, insbesondere den Erwachsenen, die Zunge zu lösen. Sie sprudelten wieder vor Lebensfreude, und immer wenn ich an Momo denke, kommt mir das unausgeschöpfte Potential von uns Menschen in den Sinn. Neurologen sagen, dass wir nur zehn Prozent unserer Hirnkapazitäten nutzen …
Anders Momo: Sie blickt bald hinter die Kulissen der zeitraubenden, grauen Männer. Durch ihre direkte und authentische Art gelangt sie schliesslich auch ans Herz einer dieser Männer. Und spätestens in diesem Moment wird klar: Rebellion bedeutet nicht Steine werfen oder grosse Reden schwingen. Auch bedeutet es nicht, Konflikte anzetteln oder Anschläge auf Institutionen verüben. Die einzige Rebellion, die wirklich Sinn macht, einfach auszuüben, und die langfristig unverzichtbar ist, kommt von Herzen. Die wahre Rebellion besteht aus Liebe.
Ob es sich bei den Liebe-Machenden vor meiner Haustüre um Rebellinnen und Rebellen handelt, konnte ich bisher übrigens nicht in Erfahrung bringen. Und eigentlich interessiert mich das auch nicht wirklich. Sonst würde ich möglicherweise jene Details erfahren, die nicht in mein romantisiertes Bild dieser Pärchen passen. So oder so scheint mir diese Form des Zeitvertreibs aber etwas vom Besten, was einem in Zeiten wie diesen passieren kann. Liebe machen am Berg!
Make love not war!, schrien die Hippies vor fünfzig Jahren. Ich würde den Krieg gar nicht mehr erwähnen, sondern ausschliesslich die Liebe: Make love, and just love!
Seid also lieb zueinander und fühlt Euch gedrückt!
Romano
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