Montag, 1. November 2021, Mals, Italien

 

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Und ja, sie ist es doch: eine Scheibe! 

 

Werte Leserinnen und Leser, PostpandemikerInnen und Brieffreunde, 

 

Vor wenigen Tagen hatte ich einen hinreißend tollen Tag. Im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Bekannte rückte, entzückt lächelnd und koboldhaft beseelt, mit ihrer neuen Erkenntnis heraus. Ja, vor allem in den Zeiten des Lockdowns im letzten Jahr habe sie viel beobachten können – und eben daraus wuchs das Wissen, frohlockte sie kichernd und fröhlich glucksend: „Die Erde ist eine Scheibe!“. 

Die von allen Unwissenden immer noch als Erdumfang betrachteten 40.075 Kilometer seien der Durchmesser, die Dicke betrüge 8.000 Kilometer, an den Rändern befände sich das Eis, damit das Wasser der Ozeane nicht auslaufen könne. Und natürlich wohnen wir nur auf einer Seite der Scheibe! Klar, oder? „Teilweise wohnen im Erdinnern auch Außerirdische“ klärte sie mich auf. Auch meine Nachfrage, ob die Menschen nicht vielleicht in praktischen Schichten wohnten, ähnlich einem mehrstöckigen Gebäude, so dass über dem europäischen Himmel vielleicht wieder der australische Boden anfange – also für jeden Kontinent ein Stockwerk, so meine in die warme Oktobersonne hineingeworfene Annahme – konnte geklärt werden: „Nein, alle Kontinente befinden sich auf der Scheibe“. Als Idee ist das recht hübsch, als PolarforscherInnen im nun nicht mehr so ewigen Eis müsste man sich sorgen, zu weit zu gehen. Denn dann falle man irgendwann runter. 

Ob die Erkenntnis, den Mond-, Sonne- und Sternenbeobachtungen geschuldet, ihre eigene ist, weiß ich nicht, denn im Netz gibt es eine erkleckliche Anzahl von Seiten, die mich aufklären, wie falsch ich doch in der Annahme gehe, dass es sich bei der Erde um eine Kugel handelt. Eine Kugel, von der auch der Chinese Zhang Heng (der von 78-139 nach Christus lebte und als Erfinder eines der ersten Seismografen gelistet wird) von einer Form eines Eidotters berichtete, Aristoteles und Platon ebenso auf die runde Form verwiesen und von der Eratosthenes bereits im Jahr 240 vor Christus den Umfang fast exakt berechnete.
Was daran so fasziniert, ist die Tatsache, dass sie viele andere Verschwörungstheorien eher blass erscheinen lässt. Vielleicht grinst sich meine Bekannte ja eins und denkt sich: Ihr Luschis. Ich zeig’ euch mal, was eine echte Verschwörungstheorie ist!
 

 

“Was also ist mit unserer Fantasie los? Wo sind sie, die Gespräche, die aberwitzige Ideen herauspusten und sich in Luft, Schall und Rauch verwandeln, sobald das Tageslicht seine scharfen Kanten zeigt?”

 

Bei unserem Gespräch habe ich mich prächtig amüsiert und mich auf die neue Theorie gedanklich eingelassen. Das war recht erheiternd, auch dann, wenn sie für mich ungefähr so viel Sinn macht, wie die neulich gehörte Aussage über einen unserer beiden Hunde. Dabei ging es um ein langbeiniges, lauffreudiges, großes und schlankes Kerlchen, doch die Aussage war: „Der Hund ist fett!“. Das mag durchaus eine Meinung sein – ich muss sie ja nicht teilen.

Nehmen wir dieses Beispiel einmal genauer unter die Lupe kritischer Argusaugen und sachlicher Beobachtung. Der Blickwinkel dieser Person war ein anderer: sie ist 15 Zentimeter größer als ich. Die direkte Draufsicht auf den schönen Caniden kann deswegen eine andere sein, aber auch die Ansicht über ihn. Denn der Hund derjenigen Person, die meinte, unser flaco sei fett, ist weitaus größer und – weitaus dünner.
Der Grund, warum ich meine, ich läge in meiner Der-Ist-Nicht-Fett-Mein-Hund-Annahme richtiger, ist recht einfach: Ich lebe mit ihm, seit er als letztes von elf anderen Welpen aus seiner Mutter heraus purzelte, sah seine körperliche Entwicklung von den Welpen- über die Teenagerjahre bis zum heutigen Alter, kenne die Fress- und Laufgewohnheiten, die Einschätzung der Tierärztin zur körperlichen Verfassung und ihre Ansichten bezüglich seines Gewichtes. Ich fühle die Rippen, wenn er vor Anstrengung hechelnd bei einer Wanderpause zu uns kommt und sich neben uns setzt. Ich darf mich also, glaube ich zumindest, auf Fakten stützen, die meine These untermauern.
 

Auch wir könnten andere Meinungen, die etwas gnadenlos sinnfrei aus der Luft greifen, einfach mal so stehen lassen – und uns dennoch überlegen, ob der tatsächliche Blickwinkel einer anderen Person nicht einfach so dermaßen anders ist, dass es für sie ganz logisch ist, was sie da äußert. Wir können die Fakten, die wir kennen, dabei im Hinterkopf behalten und ja, diese wie vom Himmel gefallenen Ansichten einfach nicht teilen. Verschwörungstheorien gehören dazu. Was die Verhältnismäßigkeit in Sachen Gesundheit der Menschen auf unserem Planeten angeht, darauf komme ich noch zu sprechen. Bleiben wir mal bei der Absurdität, allem Bizarren und den unerschrockenen Wahnsinnigen. 

Einige verblüffend andere Ansichten sind so fernab von allem, dass ich sie nur als Fantasie wahrnehmen kann. Was also ist mit unserer Fantasie los? Wo sind sie, die Gespräche, die aberwitzige Ideen herauspusten und sich in Luft, Schall und Rauch verwandeln, sobald das Tageslicht seine scharfen Kanten zeigt? Können wir nicht mehr high werden von irren Ideen und wundersamen Gesprächen? Ist das jetzt auch ein Problem? Ist zu viel Realität einfach, sagen wir mal – schlichtweg Scheiße? Und wenn doch herumfantasiert wird: Warum gibt es für einige, wie die VerschwörerInnen, den Weg zurück zur Realität nicht mehr? Wieso aber gibt es immer noch Menschen, die einen Roman mit abgedrehten, nicht konformen, schön verrückten und liebenswert-liebenden Figuren mit Ecken und Kanten und Wahnsinn schlichtweg großartig finden? 

Weil wir Platz für extrem viele Meinungen, Lebensentwürfe und Ansichten brauchen. Wir brauchen eine große Piazza für einen Adrien Danglard aus Fred Vargas‘ Romanen, Naturlandschaften für einen Hermanni Heiskari von Arto Paasilinna, den weiten Himmel für die schrägen Vögel von Aki Kaurismäki oder die Coen-Brüder und Spielwiesen für die jugendlichen Großmeister des Andersseins von Trash (Stephen Daldry, 2014) oder Tschick (Fatih Akin, 2016). Wir brauchen all jene fiktiven Underdogs und die HeldInnen aus allen Ländern der Erde, die ich nicht kennenlernen konnte. Die aber, so fiktiv sie sein mögen, doch viel mit der Realität zu tun haben. 

 

“Könnt ihr euch erinnern, wie jemand eine zweite medizinische Meinung, sogar eine dritte erfragt hatte, bevor eine wichtige Entscheidung getroffen wurde? Höhnte es damals auch
voller Gehässigkeit, dass Medizinerin Nummer zwei nur „Geschwurbel“ von sich gäbe?”

 

Die Sache mit der wilden Herumfantasasiererei fängt übrigens schon früh an. Oder kennt ihr das etwa nicht, als Kind im Dunkeln vor dem Einschlafen die wildesten Vorstellungen gehabt zu haben? Und am nächsten Tag, was war da? Wir hatten verstanden, es waren Gedanken; wilde Galoppsprünge durch die Vorstadtviertel und magische Flüge über die Dächer der Kleinstadt. Wir hatten jedoch begriffen, dass es unsere Gedanken waren. Und damit lernten wir, unsere Fantasien als solche zu erkennen – und die Realität gleich mit. 

Es sind nicht Verschwörungstheorien, die ein Ungleichgewicht erwirken. Die Unverhältnismäßigkeit von Maßnahmen, aber auch von einseitigen Darstellungen spielen in einer viel höheren Liga. Es ist eher das Verhältnis eines Spiels zwischen der Altenherrenmannschaft der Kleintierzüchter in Oberbruchenfels und – dem FC Basel. 

Warum spielt jetzt Gesundheit eine solche Rolle, wenn sonst nicht? Wie Hans Herren schreibt, vergiften wir gerade den gesamten Planeten, verursachen mit industrieller Landwirtschaft Krankheit und Hunger, sowie den sicheren Tod von Insekten und Pflanzen – und läuten damit das Ende einer langfristigen Lebensgrundlage für alle jene ein, die für ein funktionierendes Ökosystem sorgen, das uns ernährt. Warum bedrückt das jene Staaten, die sich gerade so um unsere Gesundheit kümmern, nicht? 

Im Environmental Sciences Journal wurde 2021 die Studie „Year-round pesticide contamination of public sites near intensively managed agricultural areas in South Tyrol“ veröffentlicht. Dort stellten die Biologin und Umweltepidemiologin Caroline Linhart, die Direktorin der Abteilung Pathologie des Krebsforschungszentrums Cesare Maltoni vom Ramazzini Institut in Bologna, Fiorella Belpoggi sowie Johann Zaller von der Universität für Bodenkultur Wien und Koen Hertoge, Vorstandsmitglied von PAN Europe (Pesticides Action Network) fest, dass die ganzjährige Abdrift von Pestiziden auf Nicht-Zielflächen innerhalb Südtirols stattfindet – und dass 79 Prozent dieser Inhaltsstoffe zu den hormonell aktiven Substanzen zählen, die bereits in sehr niedrigen Konzentrationen wirken – und für die die klassische Dosis-Wirkung-Beziehung nicht gilt.

Die These „Die Dosis macht das Gift“ ist hier hinfällig. Diese Substanzen bringen den Hormonhaushalt von Menschen und Tieren durcheinander und werden mit einigen Krebsarten, Unfruchtbarkeit, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen sowie mit Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes in Verbindung gebracht. Die deutsche Toxikologin Irene Witte warnt übrigens seit Jahrzehnten vor dem Zusammenspiel der Wirkstoffe, die sich in den Spritzmitteln befinden. Vor allem der Cocktail sei gefährlich, also besser weder schlucken, noch einatmen. Das alles scheint nicht genug, um politische Veränderungen zu erwirken. Immerhin: Die Ergebnisse der Forschungsarbeit, die Südtiroler Spielplätze und öffentliche Flächen untersucht hatte, sollen von der EU Kommission bei der Revision der EU Richtlinie 2009/128 berücksichtigt werden. 

Eine vor kurzem veröffentlichte Forschungsarbeit belgischer WissenschaftlerInnen, die zwei Jahre lang Blut und Urin von 800 Testpersonen in der Region Wallonien untersuchten, stießen auf Bleiwerte im Blut von Erwachsenen und Neugeborenen, die die zulässigen Werte der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit überstiegen – bei neun von zehn untersuchten Proben auch auf Pestizide. Darunter wiederum befanden sich auch jene, die seit Jahrzehnten verboten seien, berichtet Knut Krohn in der Badische Neueste Nachrichten Mitte Oktober. Die Pestizide hätten sich im Boden angereichert und würden somit von den Pflanzen jahrzehntelang aufgenommen. 

Die Art und Weise, mit Gesundheit und dem guten Leben auf dem Planeten umzugehen, scheint also eine Frage der Perspektive. 

Könnt ihr euch erinnern, wie jemand eine zweite medizinische Meinung, sogar eine dritte erfragt hatte, bevor eine wichtige Entscheidung getroffen wurde? Höhnte es damals auch voller Gehässigkeit, dass Medizinerin Nummer zwei nur „Geschwurbel“ von sich gäbe? Oder die dritte Meinung nur von einem „Medic-Idioten“ kommen könne? 

Keine Frage, dass Impfen eine großartige Lösung sein kann. Die Hafenarbeiter von Triest, die kein Interesse hatten, sich nur mit 3G bei der Arbeit einzufinden oder ansonsten zuhause zu bleiben und die deswegen einen Streik begonnen haben, werden mit Tränengas und Wasserwerfern behandelt. Nur hieß es, ab einer Impfquote von über 80 Prozent könne man zum testfreien Leben zurückgehen. Italien hat eine Impfquote von über 81 Prozent. Reicht irgendwie immer noch nicht. Seit einigen Wochen hat sie sich erhöht: nun sollen 90 Prozent geimpft sein. Hm. 

Es gibt theoretisch das Recht, sich impfen oder nicht impfen zu lassen und das Recht, den neuen Impfstoffen zu vertrauen oder eben nicht. Es gibt etliche Studien, die zeigen, wie sinnvoll eine Impfung ist und etliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die uns darauf hinweisen, dass Corona nur eine von vielen weiteren Pandemien sein wird. Die Solidarität, die Menschen bewegt hat, sich zum Wohle aller impfen zu lassen, können wir im Raum stehen lassen. Mehr jedoch nicht. 

Ohne zu bezweifeln, dass es diese Menschen gibt und gab, stand etwas anderes an vorderster Front – und das ist etlichen Gesprächen mit Bekannten, Verwandten und Freunden geschuldet: der Wille, ein Leben wie früher leben zu können; der Wunsch, in der Arbeit nicht eingeschränkt zu werden und auch die eigene Freizeit- und Reisebeweglichkeit zurückzuerlangen. Nicht die Gesundheit. Nicht die Solidarität mit anderen.   

So schwierig wie gelebte Solidarität scheint das Zuhören und Nicht-Sofort-Verurteilen anderer Meinungen zu sein – das gilt selbstverständlich auch für mich. Nach dem eher spaßigen Einstieg mit der Scheiben-Theorie begebe ich mich in Bälde auf direktem Weg zur Königsdisziplin und werde mal bei demjenigen nachfragen, dessen politische Ansichten mich seit über 40 Jahren dazu bringen, das Thema Politik nicht mehr anzuschneiden. Mit der ernstgemeinten Absicht, dass kein Schreikrampf dazwischenfegt, der die Schüsseln vom Küchentisch fliegen lässt.

 

Grüsse aus dem Südtirol

Katharina

 

P.S. Ein Freund, doppelt und vielleicht sogar schon dreifach geimpft, meinte kürzlich: Wenn die Leute mit mir über Corona sprechen wollen, sagen ich ihnen: “Nein. Jetzt reden wir mal über Landwirtschaft …”

 

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Montag, 21. Juni 2021, Mals, Italien

 

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Vom vorläufigen Ende einer Meinung

 

Diskutierende Streiter und Streitende, werte Freunde,

 

Wusstet ihr, dass an einer österreichischen Erzabbaustätte, dem Hochmoor Troiboden im Salzburger Land, 3.000 Jahre alte Holzartefakte untersucht wurden? Wahrscheinlich nicht, und – die Frage ist berechtigt – warum auch?

Vor 3.000 Jahren – Nun, hier wurde Erz gewaschen und dafür wurden Nassaufbereitungsanlagen aus Holz hergestellt. Die Siedlungsdichte nahm stetig zu und wie das so ist mit dem Wachstum, irgendwann wird irgendeine Ressource knapp. Wir kennen das ja. Mit der Verknappung des Rohstoffes Holz kam zuerst die wenig glorreiche Idee auf, von 200 bis 300 Jahre alten Bäumen auf 50 Jahre alte Bäume umzusteigen, bis sich ein umfassendes Recycling-Programm durchsetzen konnte. Fazit der Wissenschaftler: Je intensiver der Holzbedarf in der späten Phase des Bergbaus, desto mehr wurde repariert. Holz wurde oft so lange verwendet, bis es nur noch als Brennholz taugte. Prähistorisches Repair & Recycling-Programm vom Feinsten.

Vor knapp 200 Jahren – Als der Slavery Abolition Act 1833 auch die in den Westindischen Inseln wirkenden britischen Sklavenhalter und Plantagenbesitzer mit einer weniger gemütlichen Form des Geldverdienens konfrontierte, griff die Regierung beherzt ein – und unterstützte die Männer, die auf Kosten (und Leben) anderer ihr Vermögen gemacht hatten – mit einer Gesamtsumme von 20 Millionen Pfund. Eine Menge Zaster, von dem ausgegangen wird, dass er heute ca. 20 Milliarden Pfund beträgt und damals rund 40 Prozent des Staatshaushaltes ausmachte. Nur die Geldausschüttung an das britische Bankenwesen 2008 soll einen solchen Betrag übertroffen haben.

Im selben Jahr flieht der Schweizer Johann August Sutter vor seinen Schulden – wie auch vor Frau und Kindern – und schlängelt sich bis nach California durch, wo er von Mexiko rund 20.000 Hektar Land zugesprochen bekommt. Sein bemerkenswerter Aufstieg inmitten seines «Neu-Helvetien» ist auch der Tatsache geschuldet, dass er Ureinwohner entweder versklavt oder für sich arbeiten lässt, um «seinen» Grund und Boden zu beschützen. Etliche Zeitzeugen berichten von Lebensumständen der Versklavten, wie hier in der Beschreibung von James Clyman* aus dem Jahre 1845: «Sutter hält 600 bis 800 Indianer in vollständiger Sklaverei … Zehn bis 15 etwa ein Meter lange Tröge wurden in die sengende Sonne gestellt. Wie Schweine flitzten die Arbeiter zu den Trögen, und assen mit den Händen bis kein Rest des Breis mehr vorhanden war.»

Das Denkmal zu Ehren des Kolonialisten, 1987 von der United Swiss Lodge in Auftrag gegeben, kam in Sacramento 2020 zu Fall. Sutter ist nur einer von vielen forschen Abenteurern, die mitverantwortlich für die gründliche Dezimierung der dort lebenden Volksstämme sind. Kulturen, die heute – alle Gruppen zusammengezählt – rund ein Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung stellen. Ach ja: Steht das Sutter-Denkmal in Rünenberg (Kanton Baselland) noch?

 

Am 17. Juni 2021 erklärte ein deutscher Virologe, mit der vierten Welle sei zu rechnen.
Sobald das einmal öffentlich ausgesprochen wird,
so die Erfahrung der letzten 15 Monate, rollt die nächste Welle sicherlich an.

 

Vor 3.500 Jahren – Sie wurde Laugen-Melaun-Kultur genannt und siedelte in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends bis zur ersten des 1. Jahrtausends v. Chr.; im Trentino, teilweise im Unterengadin, in Süd- sowie in Osttirol. Forscher sind überzeugt, dass die Kupferproduktion für dieses Völkchen sehr wichtig gewesen sein muss. Vermutet wird, dass die Volksgruppe ihr Wissen rund um die Kupferverhüttung von der Etsch an den Rhein gebracht haben könnte, da sie jahrhundertelang neben der dort ansässigen Lokalbevölkerung lebte, ohne eigene Traditionen und Bräuche aufzugeben. Haben die Einheimischen die Fremden von der Etsch akzeptiert, weil sie das Wissen rund um die Kupfer-Technologie mitbrachten? Sorgte hier Brain-Gain und Wissenstransfer für eine frühe multi-kulturelle Gesellschaft?

Heute, Morgen, Übermorgen – Wenn ich mitfahre im zukünftigen Corona-Karussell, dann ohne Meinung. Weil ich keine Meinung mehr habe! Wie auch? Impfen ist klasse, dann aber heisst es: Auch geimpft besser testen! Impfen ist nicht klasse, zumindest nicht, wenn der Impfstoff aus Russland kommt (Sputnik) oder aus China (Sinopharm) – in der EU gilt er nämlich nicht. In Dänemark fiel die Maskenpflicht auch im öffentlichen Nahverkehr; aber nur dann, wenn man einen Sitzplatz hat! Impfen aus Solidarität? Klar, nur ist ja nicht bestätigt, dass Geimpfte nicht ansteckend sein können. Sinkende Infektionszahlen, dank der Impfungen! Doch im letzten Sommer gingen die Zahlen ebenso zurück.

Am 17. Juni 2021 erklärte ein deutscher Virologe, mit der vierten Welle sei zu rechnen. Sobald das einmal öffentlich ausgesprochen wird, so die Erfahrung der letzten 15 Monate, rollt die nächste Welle sicherlich an. Die indische Virus-Variante «Delta» brachte Lissabon, umweht vom kühlen Wind des Atlantiks, gar dazu, wieder eingeschlossen zu werden. Gegen Delta welcher Impfstoff? Nicht alle scheinen zu funktionieren. Parallel zum Beschluss Italiens, ab Montag weisse Zone zu werden (gelb, orange, Alpha, Delta, FFP2, Mutante, Variante; als hätten die Verwaltungsbeamten unserer Länder bei der kanadischen Science-Fiction-Autorin Margaret Atwood nachgeschlagen …), tauchen in acht Südtiroler Hotels frische Delta-Varianten auf. Rechnen wir mal ein bisschen schlampig vor uns hin: Acht Hotels, 800 Gäste? Mit dem Personal: 900 Menschen. Getestet wurden 70, davon waren 20 mit Delta infiziert (für ausländische Gäste: genesen, getestet oder geimpft, bitte schön).

Würdet ihr wunderbarerweise helfen, folgendes auszurechnen? Elf Fussballstadien mit Kapazitäten von 39.000 bis 90.000 Sitzplätzen. Trotz deutlich geringerer Auslastung kommt man auf eine stattliche Anzahl Menschen, die sich derzeit auf engem Raum europaweit aufhalten. Mhm. Vielleicht hat der Virologe das als Rechengrundlage für Welle vier genommen? Nahezu niedlich der Entschluss der italienischen Regierung, jedem Einreisenden aus Grossbritannien ab kommenden Montag Quarantäne aufzubrummen, ausser den 3.000 tifosi aus Wales. Sie konnten das Spiel in Rom am Sonntag noch ohne anschliessende Quarantäne geniessen.

Ihr seht, warum ich mich auf dieses Spiel nicht mehr einlassen kann. Doch die fortschreitende Digitalisierung der Welt und der Klimawandel, kombiniert mit dem Rückgang der Arten auf diesem Planeten bleiben Top-Themen – und Pandemien sind ein kleiner Teil davon. Wissen wir, wie es 2050 aussieht mit der Zeckenpopulation, wenn noch mehr Vögel, ihre Fressfeinde, verschwinden? Wissen wir, welche unerforschten Lebewesen bislang zu noch existierenden Gleichgewichten beigetragen haben? Wissen wir, wann alles kippt? Nein!

Aber wir wissen, dass weiter wie bisher keine Option ist. Sehenden Auges rennen wir auf die Katastrophe zu. Deswegen: Ackern im Kleinformat und retten, wo und was man retten kann. Der Blühstreifen ist jedenfalls gesät.

Der zauberhafteste Kommentar dieser Europameisterschaft kam von einem Schweizer Reporter, als im Spiel Dänemark-Belgien die schussfreie Bahn einen Spieler animierte, den Ball fünf Meter über das Tor zu katapultieren: «Es scheint, als habe der Schuss über das Tor mehr Energie gebraucht als notwendig gewesen wäre, um den Ball ins Tor zu bringen.» Nach dem Schreiben dieses Textes fühle ich doppelt mit dem jungen Fussballer, der das Ding auch nicht reingehauen hat. Gut, wenn es zweite Chancen gibt.

Einen sommerlichen Wochenanfang euch allen, mit oder ohne EM, ob geimpft oder nicht geimpft …

 

Katharina

 

P.S. Auch die Meinung über die Nicht-Meinung kann sich wieder ändern. Im Moment ist jedoch nicht nur Sommer-, sondern auch Meinungspause. Vielleicht dreht der Kreisel ab der vierten Welle wieder schneller.

*Rachel Huber: General Sutter – die obskure Seite einer Schweizer Heldenerzählung zitiert hier Madley, An American Genocide.

 

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Montag, 24. Mai 2021, Mals, Italien

 

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Von kollektiven Kochtöpfen, bärigen Sauviechern und schmelzenden Bühnen

 

Wertgeschätzte Brieffreunde,

 

Udo Lindenberg wurde vor wenigen Tagen 75 Jahre alt. Die eierlikörliebende Kultgestalt schätzt Hermann Hesse, hat ein neues Album herausgebracht, und Mittendrin tönt es: «Für uns ist love & peace die einzige Währung und auch die dunkelste Stunde hat nur 60 Minuten». Richtig gelesen, Romano, love & peace, und: Zu den Binsenweisheiten auf Kalendern und mit zarten Blümchen geschmückten Büchern – übrigens zu einem Preis, der in einen Nipozzano von Frescobaldi sinnvoller investiert wäre – kommen wir noch, Markus.

Und da beim Wein, klären wir gleich die Sache mit den Frikadellen, Claudio: Fleischkrapfln sagen sie hier in Südtirol, Buletten im Nordosten Deutschlands, Boulette die Franzosen, Fleischpflanzerl werden in Bayern gegessen, Bratklops und Fleischlaberl liegen hunderte von Kilometern voneinander entfernt und sie zeigen, rund und deftig, wie sie sein können, dass Kochen auch ohne Yotam Ottolenghi und Ana Roš funktioniert. Gleiches gilt für die Gerichte aus den Töpfen Siziliens, zusammengefasst in Profumi di Sicilia von Giuseppe Coria, und die Spiegel unzähliger Mittag- und Abendessen, Festtafeln und Werktagsgerichte sind – anstelle der Ideen weniger Köpfe mit Kochlöffeln. Nicht so chic, kaum spektakulär, eher einfach. La Bibbia della cucina siciliana ist seit rund 40 Jahren ein Dauerbrenner des Verlags.

Apropos Bibel: Thomas Münzer hat sich nicht wie Martin Luther mit den damals Wachteln verzehrenden und den Bauern das Jagd- und Fischereirecht beschneidenden Fürsten einigen wollen. Angeblich hatte er – drei Jahre vor der Luther’schen Bibelrevolution – in deutscher Sprache gepredigt, auch Frauen durften in seinem Kirchenchor mitsingen, seine Gattin, ehemalige Nonne, hiess Ottilie von Gersen und angeblich rannten ihm die Gläubigen die Kirche ein, so beliebt soll er beim Volk gewesen sein. «Dem Satan von Allstedt», wie Luther ihn nannte, wurde im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat DDR gehuldigt, er erschien auf der Fünf-Mark-Note und bekam stattliche Denkmäler. Ihn, der auf der Seite der Bauern gegen die Söldner von Philipp von Hessen kämpfte, hatte die Bundesrepublik jedenfalls fast vergessen.

Ebenso verplombt scheint der constructive journalism. Hin und wieder bricht er durch, funkelt flackernd und verglüht am medialen Sternengewölbe. Sogar eine kleine Lokalzeitschrift im Vinschgau wollte vor etlichen Jahren in diesem Topf mitrühren. Vorgestellt wurden junge Leute, die etwas bewegen wollen. Kurz erwacht, schnell eingeschlafen. Wäre es weitergelaufen, würden wir seit dieser Zeit wöchentlich von einem jungfräulichen Projekt, einem ungewöhnlichen Traum, einer frischen Tat lesen können. So schlecht wäre das nicht. Warum ging da die Puste aus?

Romano hat mit dem konstruktiven Journalismus etliche Vorarbeit geleistet. Weiter so möchte man skandieren! Doch ohne auf Missstände aufmerksam zu machen, braucht es den Journalismus gar nicht mehr. Wer nur konstruktiv berichtet, der kann gleich PR machen. Jean Ziegler macht selbst dann PR für sich, wenn er sagt, dass – in den frühen Jahren in Cuba, bei einem so sensiblen Projekt – Pressefreiheit erst einmal hintenanzustellen sei. Schüttelt keiner wild mit dem Kopf?

Als die Flugzeuge 2001 in das World Trade Center krachten, schaute die westliche Welt hin, wir starrten in einem Frankfurter Büro auf den Bildschirm. Fassungslos. Eine Fassungslosigkeit, die einen Krieg im Auge hatte, der auch kam – ganz anders, als wir ihn uns vorstellten – und die wir nächtelang diskutierend unter uns aufteilten. Der Investor, für den ich arbeitete, und – in einer Vermögensklasse beheimatet, mit der wir zuvor eher wenig Bekanntschaft gemacht hatten – zeigte eine andere Reaktion; nämlich eine kaum spürbare. Sie war der unerschütterlichen Erkenntnis geschuldet, dass der Feuersturm – so wie alle anderen Orkane – seinem Leben, wie es war und sein würde, wenig anhaben konnten. Schon damals klappte der Mund vor Verwunderung kaum mehr zu. Distanz ist käuflich.

 

Da die Teller und Becher gefüllt und die Betten weich sind, der Arzt in der Nähe weilt, hoffentlich auch der nächste Gehaltsscheck; so wünsche ich euch die Möglichkeit des Miteinanders.

 

Markus, wenn du vom Durchwursteln schreibst, triffst du den Kern der Sache. Mit Hilfe der neuen Krisenerfahrung, so scheint mir, könnten wir vielleicht erstmalig in Ansätzen verstehen, was es bedeutet, wenn von einem Tag auf den anderen unsere Welt Kopf steht. Besser, wir schöpfen jeden Tag genug Wasser aus dem Kahn, um weiterzufahren.

Unsere Corona-Erfahrungen sind nicht vergleichbar mit denjenigen von Menschen im Krieg, den sie selbst nicht angezettelt haben. Nicht vergleichbar mit denjenigen, die Meere überqueren, um ihrem Leben Hoffnung zu geben. Nicht vergleichbar mit dem Verlust von allem Geliebtem derjenigen, die nach 1986 aus Tschernobyl verbannt wurden oder der Panik, dass der Klimawandel den Grund und Boden der heimatlichen Insel wegspült. Angesichts der Coronakrise wird jedoch nachempfindbarer, was Menschen in anderen Zeiten oder auf anderen Kontinenten oder in anderen Arbeitsbedingungen täglich leisteten und leisten, um ein kleines Stück Glück unserer regenundurchlässigen Dächer, vollen Teller, unseres sauberen Trinkwassers, der erhofften Urlaubstage, der jahrzehntelangen Sicherheit vor Krieg zu erhaschen. Wenn Corona uns dazu bringt, mitzufühlen, wäre das nicht ein erster Schritt?

Dann wäre die Krise sehr wohl eine Chance, die man gar nicht vertun kann. Einfach mal eintauchen und mitfühlen. Damit ist noch nichts verbessert. Aber gelangen wir derzeit nicht näher an das Begreifen, wie nicht nur in der Natur alles miteinander verbunden ist, sondern auch wir untereinander? Und dass wir nicht so abgeschottet sind vom restlichen Glück und Elend der Welt, wie wir immer glaubten?

Ihr seid nicht überzeugt? Kein Problem, nicht alle polpette gelingen ohne Anleitung. Vielfältiger noch als die gesammelten kulinarischen Wunderwerke Siziliens und für die staunende Leserschaft so abwechslungsreich wie opulent – verzeiht diese Geschmacklosigkeit – ist die Lektüre von Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Oder auch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Die Autorin lässt die Menschen zu Wort kommen. Tausende von ihnen. Zack, die Vorstellung Leben, wie du es kanntest? Vorbei. Der Vorhang brennt. Die Bühne schmilzt. Was nun?

Endlich haben auch wir eine Chance. Mal nicht nur mitzureden. Sondern zu versuchen, ein spärlich’ Stückchen mitzufühlen. Ein erster Schritt. Auch wenn ihm, schönreden hilft nicht, «dieses Triumphgeheul über Binsenweisheiten», wie Markus es treffend nennt – in rosa Blümchen gebettet und im Internet jederzeit abrufbar – ab und an vorausgeeilt sein mag.

Da die Teller und Becher gefüllt und die Betten weich sind, der Arzt in der Nähe weilt, hoffentlich auch der nächste Gehaltsscheck; so wünsche ich euch die Möglichkeit des Miteinanders. Ayllu kann auch hier geschehen und vergessen wir nicht: Das Elend wohnt manchmal im dritten Stock.

 

Katharina

 

PS: Der Klappmechanismus für einen sich schliessenden Mund, der vor Erstaunen wieder einmal weit geöffnet war, setzte angesichts eines kürzlich gesehenen Videos völlig aus. Ein Bär wird von einem Haus aus gefilmt, als er versucht, über einen Zaun zu steigen. Die Filmer filmen nicht nur, sondern kommentieren munter: «So ein Sauvieh. So ein Schwein». Der Widersinn dieser Bezeichnung lässt Rückschlüsse zu.  

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Montag, 26. April 2021, Mals, Italien

 

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Wenn die Unterschiede zu gross werden, ist man entweder zu alt oder fast tot

 

 

Werte Brieffreunde, postpandemische KorrespondentInnen und LeserInnen

 

Ohne euch auf diese Distanz zu nahe treten zu wollen, und ihr könnt mich korrigieren: Der ein oder andere von euch ist auch verwirrt – offensichtlich sind wir das alle auf recht individuelle Weise. Beruhigend ist es nicht, aber nicht nur wir sind verwirrt, sondern auch jene, die gar nicht merken, wie wirr sie sind. Deutlich wird auch: die Verwirrung steigt. Doch das ist nicht nur Corona geschuldet.

Am Küchenfenster klopfte neulich ein Finger, der zu einem Bekannten aus Deutschland gehörte: Zeit habe er keine, nur zwei Tage unterwegs, er müsse gleich weiter. Er streckt die Hand aus, ich schüttele kräftig, «Ach, so eine bist du nicht?», (also eine Keine-Händeschüttlerin), er erklärte noch freudestrahlend, dass er zu den Verschwörungstheoretikern gehöre, das habe er ganz zu Beginn schon gesagt, das Ganze werde ums Impfen gehen. Dreht sich um, stolziert aus dem Hof, schliesst das Eisentor, weg ist er. Digital schreiben Freunde aus weiter Ferne, man solle doch über die Nasenflügeltests, die Lehrerinnen und Lehrer um 7.30 Uhr mit der Brut und Zukunft der Provinz durchführen, schreiben, so etwas gehöre an die Medien, so gehe das ja nicht, den bekannten Herrn aus Deutschland, diesen Wolfgang Wodarg, den würde ich hoffentlich kennen? Nein, näher kenne ich ihn nicht, den Aktivisten in Sachen Corona. Sollte ich?

Eine Wissenschaftlerin aus den USA hingegen kennt ihre Ratten genau. Peggy Mason prüft, inwieweit womöglich auch komplexere Emotionen bei Tieren vorhanden sind. Im Besonderen forscht die Neurobiologin, inwieweit Ratten der Empathie fähig sind. Ratte eins, ich nenne sie mal Angie, sitzt also in einem richtig engen Käfig, der sich in einem grösseren Käfig befindet. Das Türchen kann sie nicht selbstständig öffnen, dies geht nur von aussen. Ratte zwei, Mercedes, flitzt daraufhin in den grossen Käfig. Erster Fakt, der Peggy Mason staunen liess: Mercedes huscht zielstrebig zur Käfigmitte, wo Angie gefangen gehalten wird, normalerweise, sagt die Wissenschaftlerin, würden sich Ratten nur am Rande eines Käfigs aufhalten. Um es abzukürzen: Mercedes befreit Angie aus ihrer misslichen Lage, wenngleich sie einige Mühe hatte, herauszufinden, wie der Schnappmechanismus funktionierte.

Zweiter Versuch, gleiche Mäuse. Angie ist wieder in dieser äusserst misslichen Lage, Mercedes flitzt und weiss nun, wie die Käfigtüre zu öffnen ist. Doch dieses Mal befindet sich ein zweiter Käfig im grossen Käfig, ebenso geschlossen wie der mit der armen Angie – und direkt daneben. Aber dort befinden sich leckere Schokoladenkekse! Mercedes rennt hin und her (sie ist das clevere Ding, das nun schon weiss, wie die Käfige geöffnet werden müssen) und entscheidet sich, erst einmal Angie rauszuholen. Und das immer wieder! Und die Moral von der Geschicht? Wahrscheinlich keine. Ausser, dass eben sie, die Moral, nicht uns Menschen vorbehalten ist, sondern dass auch Ratten eine haben. Wenn wir das nicht Moral nennen wollen, dann bitteschön, gerne auch Ethik. Empathie wäre ein Teil davon. Etliche Formen von Ayllu finden sich, so scheint’s, also im Tier- und Pflanzenbereich.

 

Die laienhafte Frage, ob die kulturelle Evolution, angefeuert von einem immer lästigen,
teils todbringendem Virus, gerade einen Quantensprung nach vorne wagt,
den wir kaum einschätzen können, bleibt bestehen.

 

Claudio, Markus, Romano, entschuldigt, dass an dieser Stelle keine Replik zu euren so ausführlich wie logisch formulierten Briefen kommt. So unterschiedliche Dinge uns beschäftigen und so verschieden die Sichtweisen sein mögen: Tapp, tapp, tippten die Füsse während des Lesens, manches Mal war es ein ähnlicher Groove, den ich spürte, über Länder, Kontinente und Lebensbedingungen hinweg. Sei es der Gemeinschaftsinn, den ich so wahnsinnig wichtig finde, aber den ich selbst nur sehr eingeschränkt verwirkliche oder die Erkenntnis, dass das Ausklinken aus der Welt nicht zielführend oder eben, ja, in der Tat nicht gesellschaftsfähig ist.
Eingeschlossen in den – wenn schon nicht gleichen Takt, dann doch in eine wiedererkennbare Melodie – sind die zahlreichen Referenzen zur Literatur, mit der viele ihre Zeit verbringen und womit sie das einzige Leben, begrenzt wie es nun einmal ist, nicht nur erweitern, (meinte auch Houellebecq, nur hübscher formuliert) und ohne die es gar keinen Sinn macht, auf diesem Planeten mühsam herumzukrabbeln. Dazu später. Leider muss ich ausholen, was uns zu den Nagetieren zurückführt.

Und zwar zu israelischen Ratten in einem israelischen Nadelwald. Irgendwann hatte eines der klugen Kerlchen herausgefunden, dass die Kerne der Tannenzapfen nahrhaft und lecker sind. Und wahrscheinlich, dass sie besser schmecken, wenn sie frisch von den Baumkronen genossen werden. Die Tiere wurden hervorragende Kletterer und entwickelten laut Genetikerin und Evolutionsbiologin Eva Jablonka einen ganz neuen Lifestyle, inklusive der Nester für die Aufzucht der Jungen in luftigen Höhen. Eine Genmutation liegt dem nicht zugrunde, wohl aber eine kulturelle Evolution. Jablonka kam zu dem Fazit, dass Entwicklung und Evolution deutlich zusammenhängen und zusammengehören: «Denn was evolviert, ist nicht ein einzelnes Gen, sondern ein Entwicklungssystem, das eingebettet ist in ein noch breiteres Netz einer fluktuierenden Umwelt.»

Wenn sich der Mensch in den kommenden Generationen gentechnisch nicht verändert, aber eine kulturelle Evolution durchmacht, dann liegt es nicht an Corona, sondern an einer anderen, der digitalen Evolution. Aufgrund von Corona jedoch beginnt der digitale Drive schneller Fahrt aufzunehmen. Einige Teenager von heute, so scheint es, sind sprachlich nicht wirklich auf der Höhe. Rechtschreibung, Grammatik, Interpunktion, es rattert vor Fehlern. Nur stellt sich die Frage: Brauchen sie das eigentlich noch in der Zukunft?

Die laienhafte Frage, ob die kulturelle Evolution, angefeuert von einem immer lästigen, teils todbringendem Virus, gerade einen Quantensprung nach vorne wagt, den wir kaum einschätzen können, bleibt bestehen. Denkbar wäre, dass Schreiben nicht mehr wichtig sein wird, denn das erledigen ja andere. Stets gut gelaunte KIs zum Beispiel. Bewerbungsschreiben werden folgendermassen verfasst: Seite im Netz finden, (drei Sekunden), eigenen Namen eingeben (eine Sekunde.), Unternehmen oder Organisation angeben, bei der man sich bewirbt (zwei Sekunden, bei komplizierten Namen auch drei), dann der Zeitraum, die Stelle, der Posten, wofür man sich bewirbt (vier Sekunden) und schon wird das perfekte Schreiben (in Urdu oder Englisch, Arabisch, Chinesisch, Russisch, Tamil und in allen anderen Sprachen, die es so gibt) ausgespuckt, weil die Informationen über die Bewerberin und das Unternehmen in Nanosekunden vorhanden sind, der Algorithmus alles miteinander verknüpft und das, was wir armen veralteten Verirrten früher als Bewerbungsschreiben bezeichneten, dagegen hoffnungslos unprofessionell wirkt. Was ich als gut erachtete, scheint völlig veraltet. Und was die Zukunft will, das kann ich nicht. So richtig Out zu sein, hat sich nie klarer angefühlt als im Kontrast zu einer Generation, von der ich manchmal eben nicht weiss, ob wir noch derselben Spezies angehören. Der Punkt dabei: Ich frage das im Ernst.

Wo wird Rechtschreibung gefragt sein, wenn die Formulare, die von Krankenversicherungen und Kfz-Anmeldestellen und Steuerbehörden nur von Maschinen gelesen werden? Und wozu braucht der Mensch noch Bücher, wenn das Interessanteste, was er lesen möchte, die reizenden Bilder der Kids-Influencerin (plus Kommentaren wie: «Annabel hat heute schon Pipi im Töpfi gemacht!» oder andere bedeutungsschwere Sätze wie: «You reflect what you desire» (männlicher Mode-Influencer)) sind und die gesamte Influencer-Industrie mittlerweile sowieso ohne Künstliche Intelligenz kaum auskommt. Ich als Teil der Noch-nicht-auf-den-Tannenwipfeln-lebenden-Generation kann nicht mitreden. Ich habe keine Ahnung, welche unserer Fähigkeiten in der Zukunft gebraucht werden. Der ultimative Genuss beim Lesen könnte weniger stattfinden. Wird die Nachfrage irgendwann das Angebot regeln?

Wir wünschen uns Corona-freie Zeiten, dabei hatten einige von uns Dekaden vor den Corona-Massnahmen die Augen schon – wie Stanley Kubrick 1999 so treffend formulierte – Wide Shut.

 

Passt auf euch auf und lasst es euch gut gehen!

Katharina

 

P.S. Was zum Teufel ist mit jener israelischen Ratte passiert, die es nicht auf den Baum geschafft hat?

P.P.S. Das, was mich die letzten Tage die Augen weit aufreissen liess ist die in Deutschland entbrannte Debatte über #allesdichtmachen. Kann es kaum abwarten, von euch zu diesem Stück Corona-Geschichte ein paar Einschätzungen zu lesen.

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Montag, 29. März 2021, Mals, Italien

 

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Nach innen gehen und rausspazieren?

 

Werte Post-Pandemiker, 

 

Erinnert ihr euch an Woody-Allens Film «Was Sie schon immer über Sex wissen wollten (aber bisher nicht zu fragen wagten)»? Er wurde einige Jahre vor eurer Geburt gedreht, lief jedoch häufig im Fernsehen oder in den Programmkinos. Nach der Lektüre eurer Briefe fiel mir diese fantastische Filmszene ein, worin ein schwarzes Spermium inmitten weisser Kollegen reichlich verwirrt in Richtung Uterus rutschte: «Hilfe, ich bin hier falsch!», rief es immer wieder, bevor es in der Menge verschwand. 

Dieses kleine schwarze Kerlchen; nun kann ich mir vorstellen, wie es sich gefühlt hat. Anders drauf, anders denkend, anders eben. Denn ich bin sie, Markus, die schon Jahre vor der Pandemie liebend gerne auf der heimischen Terrasse sass und die Sonne beim Untergehen bewunderte und auch damals kaum Bedarf nach lustigem Treiben im Dorf hatte, damit sie nicht noch eine andere Meinung hören musste: die Spiesserin. Auch bin ich jene, die sich, im reichen Südtirol lebend, mit all jenen Ecuadorianerinnen, die von der Hand in den Mund leben, bestens identifizieren kann: das Prekariat. Und eine, die sich wundert, ob die Charaktere all jener, die sie im Laufe langer Wintertage erfindet und erfunden hat – wenn kein Job vorhanden ist, der das Geld zum Leben bringt – nicht zu blass sind: die Bohémienne. 

Das macht also zusammen: Eine Prä-post-prekäre-Pandemische-Bohémienne-Spiesserin, heute mit Pulswärmern, weil der Kamin nicht zieht, wir kein Feuer machen können und die Fingerchen während des Schreibens einzufrieren drohen. 

Doch muss ich wirklich vor die Türe, wenn rote Zettelchen auf dem Bürgersteig – vom Wind angetrieben – an den Gummistiefeln auf dem Weg zu den Hühnern kleben bleiben? Denn so etwas passiert durchaus. Heute zum Beispiel. Da wirbelte doch diese rote DIN-A4-Seite in schwarzer Schrift auf Wadenhöhe herum, mit dem herausragenden Titel: «Der Wunsch nach mehr». Naja.
Der Text beginnt mit einer Frage, die eine Frage aufwirft: Soll man darüber stolpern oder gleich laut loslachen?: «Was haben Sie sich von der Pandemie erwartet?». Weiter ging’s mit Aussagen rund um die Pandemie und um die Verfassung Italiens, insbesondere ist hier der Verweis auf das Recht auf Arbeit von Interesse. 

 

La Repubblica riconosce a tutti i cittadini il diritto al lavoro 

e promuove le condizioni che rendano effettivo questo diritto. 

Ogni cittadino ha il dovere di svolgere, secondo le proprie possibilità 

e la propria scelta, una attività o una funzione che concorra 

al progresso materiale o spirituale della società. 

 

Arbeitslosigkeit gab es – Verfassung hin oder her – übrigens auch vor der Pandemie. Das rot-unterlegte Schreiben dreht sich um alles, was laut VerfasserIn nicht rund läuft: «Maskentragen ist strafbar», so steht’s geschrieben, das sei nur zu Fasching erlaubt. Bei einer Anzeige von Seiten der Polizei solle man diese einfach nicht unterschreiben. Jeder Bürger und jede Bürgerin habe sich frei zu bewegen, sich frei zu machen von diesem Wahnsinn, es sei denn, er oder sie habe ein Verbrechen begangen, die psychologischen Folgen würden jene tragen, die die Unschuldigsten von allen seien: die Kinder. Diese Gefangennahme, entnehmen wir den Zeilen, sei drauf und dran, die Menschheit auszurotten. 

Beim Lesen fällt mir die Krankenschwester ein, die in einem Altenpflegeheim arbeitet. Und die berichtete, dass sie es sich nicht mehr leistet, die Entscheidungen der Politik, ob richtig oder falsch, zu beurteilen. Ansonsten würde sie tatsächlich wahnsinnig. Bei 14-Stunden-Schichten, etlichen Todesfällen und dem dauerhaften Maskentragen lautete ihre Devise irgendwann nur noch: «Ihr entscheidet, wir setzen um. Sonst drehen wird durch». Aufmerksam wird man auch auf jenen Angestellten, der sich, als einige Gemeinden in Südtirol aufgrund der südafrikanischen Mutation zur Sperrzone wurden (inmitten der Sperrprovinz in der gesperrten Region im zugesperrten Land), einmal die Woche Urlaub nahm, damit er sich nur zweimal anstelle der viermal wöchentlich testen lassen musste. In Hessen/Deutschland gibt es nun ein mobiles Testzentrum für Schülerinnen und Schüler. Eines. Für ganz Hessen. Nach einem Jahr Pandemie-Verordnungen! Gestern verordnete Angela Merkel etliche Osterruhetage, heute sind sie bereits wieder auf der Dann-doch-nicht-To-Do-Liste gelandet. Kurz: der Wahnsinn lauert so oder so; ob nun Coronaverordnungen befolgt werden oder nicht. Und er liegt vielmehr in der intensiven Beschäftigung mit Corona als in der Krankheit selbst.

Was wäre denn, wenn wir der Pandemie deutlich weniger Gewicht gäben? Man muss keine Leugnerin sein, um keine Lust mehr zu haben auf eine derart einseitige Sicht auf die Welt. Der Planet ist ja nicht nur mit Corona, sondern vor allem mit einer Corona-Sichtweise infiziert. Wenn wir ein kleines Stück zurückgingen? Dorthin, wo die grössten Baustellen warten. Die klobigen Stiefel und die groben Arbeitshandschuhe anziehen und beginnen, die Steine neu zu ordnen oder den Grundstein mal woanders hinzusetzen? Das Artensterben schreitet voran, der …, nun, ich will das überstrapazierte Wort dafür (vor einiger Zeit noch in aller Munde) nicht benutzen, schreitet voran … Jetzt wisst ihr alle, was kommen könnte, nämlich die ganze Litanei, wie wir den Planeten retten könnten. Ihr kennt die Worte, ihr kennt alle wissenschaftlichen Argumente dafür, ihr kennt die wirtschaftlichen Argumente dagegen. Ich kenne sogar mein eigenes bescheidenes Verhalten, das kaum jemals perfekt und manchmal – fast schon gewissenlos ist. 

Ihr wisst ja, dass Sauerteig-in-der-Designerküche-herstellen der neue champagne-socialism ist, und ihr wisst auch, dass noch nicht einmal sauberes Konsumverhalten und Energiesparen uns direkt und sofort aus dieser wirklich planetarischen Krise retten kann: Erst einmal nicht. Doch träumen – das können wir immer. 

 

“Werte Postpandemiker, ich glaube nicht, dass es Leute wie mich für kluge Kommentare über die Zukunft des Planeten braucht, wenn ich schon beim Ostereierfärben scheitere.” 

 

Also träume ich mich in eine Schule, deren Schulbücher neue Themen haben. Eine neue Schule, in der Solidarität als cool und Respekt vor dem noch so kleinsten Lebewesen als sexy gilt. Kritisches Hinterfragen von Tatsachen, Schulbücherinhalten und LehrerInnenaussagen? Ha, das lernen die Kids schon in der Grundschule. Und während sie solidarisches Handeln durchnehmen, würden sie mit der bezaubernden Nachricht konfrontiert, dass alle Abgeordneten des Südtiroler Landtages für den Rest des Coronajahres einer Halbierung ihrer Gehälter zustimmen, um die andere Hälfte in Not geratenen Menschen zugute kommen zu lassen. Den Vorschlag gibt es in der Tat – von einem Abgeordneten! Er hatte seine liebe Mühe, damit überhaupt bis zur Öffentlichkeit vorzudringen. Er war, wen wundert’s, auch der Einzige mit diesem Vorschlag. 

Und ich träume, wenn sie gerade das Fach: «Artenschutz lokal – Was Gemeinden und BürgerInnen tun können» durchnehmen, dass der Südtiroler Gemeindeverband neue Möglichkeiten für das praktische Umsetzen von vielfältigem Lebensraum schafft und die für die Landwirtschaft vorhandenen Gelder sorgsam und zukunftsorientiert umschichtet. Und da die Verantwortlichen wissen, dass SchülerInnen solche Fächer haben, wenden sich sich an die Schulen: Projekttage von SchülerInnen werden unbürokratisch ermöglicht. Während die Jugend eifrig projektiert, sieht sie, dass nicht alles nur heisse, sondern echte Luft zum Atmen für die Arten ist. Ohne die Jugend und die nachkommenden Generationen wird es nicht gehen, dass wir die Steine neu aufstellen, mit Licht für die Sonne zum Durchscheinen und mit gutem Grün zum Ausruhen. 

Naiv! Was ist diese postpandemische Spiesserin aus dem Bohème-Prekariat naiv! Sie, die gerade gestern noch sagte: «Keinen Bock auf Eierfärben mit Zwiebelschalen und biologisch angebauter Roter Beete. Ich will sie diesmal schreiend bunt – und wenn das Zeug noch so chemisch hergestellt wird!» Frei nach Kirchenvater Augustinus: «Gib mir Keuschheit, aber jetzt noch nicht». Halleluja, was für eine Inkonsequenz. Werte Postpandemiker, ich glaube nicht, dass es Leute wie mich für kluge Kommentare über die Zukunft des Planeten braucht, wenn ich schon beim Ostereierfärben scheitere. 

Das Einzige, was uns derzeit retten kann? Die Zeit, die wir uns nehmen, selbst nachzudenken, anstelle als Nachrichtenjunkie kaputt in der Ecke zu landen: ob auf einem Boca da lobo-Sofa oder mit Mütze und Handschuhen im Bett der ungeheizten Wohnung ist dabei schnurzpiepegal. Damit jede und jeder wenigstens das Stück Leben an Tageslicht befördern kann, das dort im Inneren wohnt und das nur eines will: rauskommen. Und wenn als einziges schwarzes Samenteilchen in einem Pool voller weisser Kollegen – auch hundewurscht! Die Frage bleibt natürlich bestehen, ob das eine Lüge in die eigene Tasche ist, oder ob es sich schlichtweg um die Einsicht handelt, dass die Kritik, wenn sie sich an alles Äussere richtet, nicht wirklich weiterführt. Also was ist diese Einstellung nun: Eher Joseph Campbell:  «Wir befinden uns nicht auf unserer Reise, um die Welt zu retten, sondern um uns selbst zu retten. Aber indem wir das tun, retten wir die Welt.» – oder die bürgerlich-bequeme Ansage an das eigene, heimelige Wohlbefinden? 

 

Mit verwirrten Grüssen an euch alle und in Erwartung der kommenden postpandemischen Briefe

Katharina

 

P.S. Ein bisschen verwirrt zu sein ist übrigens ein Zustand, der keineswegs zu verachten ist. 

P.P.S. Ein Blick zurück: Das Werk von James Agee und Walker Evans: «Let us now praise famous men» (1941) setzte in den USA neue journalistische Massstäbe. Fotografien wie jene von Dorothea Lange, Gordon Parks oder Marion Post Wolcott, nun, sie wären nicht hier, hätte es im Rahmen der Farm Security Administration nicht jenes Programm gegeben, dass Fotografinnen und Autoren finanziell unterstützte, um die dramatische Situation der FarmerInnen in den USA zwischen 1935 und 1944 zu dokumentieren. Das heutige kulturhistorische Archiv hat damals jenen Kulturschaffenden einen bezahlten Job geboten. Wäre das nicht etwas für uns heute? 

 

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